Rechtsextreme DrohschreibenserieDer NSU 2.0 war nicht allein

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einen Frankfurter Polizisten wegen Bedrohung. Er ist verdächtig, eine Morddrohung an eine Anwältin verschickt zu haben. Das Schreiben gilt als Beginn der NSU 2.0-Serie.

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„Hessische Polizistinnen und Polizisten waren zu keinem Zeitpunkt Absender oder Tatbeteiligte der NSU-2.0-Drohmails-Serie“ – Zweifel an dieser Aussage von Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) haben offenkundig selbst hessische Behörden. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft ermittelt aktuell gegen einen Polizisten wegen des Tatverdachts der Bedrohung. Das räumte die Staatsanwaltschaft  gegenüber FragDenStaat und ZDF Magazin Royale nach mehrfacher Nachfrage und der Androhung rechtlicher Schritte ein. Dabei geht es um eine Morddrohung gegenüber einer Rechtsanwältin, die als Beginn einer Serie von Schreiben gilt, die mit NSU 2.0 unterzeichnet waren. 

Der NSU 2.0 begann auf dem 1. Polizeirevier Frankfurt

Seit August 2018 waren rund 170 Morddrohungen verschickt worden, die mit dem Kürzel NSU 2.0 unterzeichnet waren – eine Referenz an den rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der zwischen 2000 und 2007 mindestens zehn Menschen ermordet hatte. Viele der Drohschreiben enthielten persönliche Daten der Empfänger*innen, die zuvor auf Polizeicomputern abgerufen worden waren.

Am 2. August 2018 erhielt die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız ein Fax, das mit NSU 2.0 unterzeichnet war. Man werde ihre Tochter schlachten, hieß es in dem Schreiben. Außerdem enthielt es die geheime Anschrift der Familie und den Namen der damals zweijährigen Tochter. Anderthalb Stunden bevor das Schreiben verschickt wurde, hatte jemand auf einem Computer im 1. Polizeirevier Frankfurt am Main diese Daten abgefragt. Rund sieben Minuten lang wurde in verschiedenen Systemen nach Başay-Yıldız und ihrer Familie gesucht. Wer genau die auffällige Abfrage durchgeführt hat, ist bis heute nicht geklärt. Die Polizistin Miriam D. war zum damaligen Zeitpunkt am Computer eingeloggt. Sie gab später an, sie könne sich nicht daran erinnern, ob sie die Abfrage durchgeführt habe. Zudem sei es üblich, dass ihr Passwort auf einem Zettel neben dem Computer für alle zugänglich ist.

Rechtsextreme Polizeichats: Der „Itiotentreff”

Auf dem Telefon von Polizistin Miriam D. fanden Ermittler einen WhatsApp-Chat mit Polizisten ihrer Dienstgruppe namens „Itiotentreff”. Darin hatten sich die Polizist*innen und die Lebensgefährtin eines Beamten hundertfach menschenverachtende Inhalte geschickt. In ihren Nachrichten relativierten die Polizist*innen den Holocaust und den Nationalsozialismus, sie machten Menschen mit Behinderung verächtlich und amüsierten sich über Vergewaltigungen. Den gesamten Chatverlauf haben wir im September 2023 gemeinsam mit dem ZDF Magazin Royale veröffentlicht. Mehr Hintergründe zu der Gruppe und den gesamten Nachrichtenverlauf gibt es unter www.itiotentreff.chat.

Ein Polizist, der im Gruppenchat besonders häufig mit menschenverachtenden Inhalten auffiel, ist Polizeikommissar Johannes S.. Aufgrund zahlreicher Indizien führten die Ermittler ihn damals schnell als Hauptverdächtigen für die Morddrohung gegen Anwältin Seda Başay-Yıldız.

Noch immer verdächtig: Polizeikommissar Johannes S. 

Polizist Johannes S. zeigte seine rechte Gesinnung nicht nur in den Nachrichten in der Chatgruppe „Itiotentreff”. Auch in mehreren weiteren Gruppen mit weiteren Polizist*innen teilte er diese Inhalte. Auf seiner Festplatte und seinem Telefon fanden Ermittler zudem zahlreiche Fotos, die aus seiner Schulzeit stammen und auf denen S. und frühere Klassenkameraden den strafbaren Hitlergruß zeigen. Ein anderes Foto, das S. gespeichert hatte, wurde in einem Klassenraum der Hessischen Polizeiakademie aufgenommen: Es zeigt Stifte, die auf dem Schultisch in Form eines Hakenkreuzes und der Insignien der SS zusammengelegt sind. Das öffentliche Verbreiten beider Symbole ist strafbar.

Diese Fotos fanden Ermittler*innen bei Polizist Johannes S.

Neben mehrfachen Hinweisen auf eine rechte Gesinnung von Johannes S. fanden Ermittler zahlreiche weitere Indizien, die auf ihn als Absender des ersten NSU 2.0-Drohschreibens deuten. So hatte der Polizist laut seinem Browserverlauf vor der fraglichen Datenabfrage in Online-Telefonbüchern nach „Yildiz in Frankfurt am Main” gesucht und sich mit einem Mandanten der Anwältin beschäftigt, auf den das erste Drohfax referiert. S. hatte in der Polizeischule einen Vortrag über das verschlüsselte „Tor-Netzwerk” gehalten, das man ihm zufolge dafür verwende, um seine Meinung frei äußern zu können. Um das Drohfax über einen Onlineanbieter zu verschicken, war ein Tor-Browser verwendet worden. Außerdem werteten die Ermittler ein falsch ausgefülltes Funkwagenauftragsblatt mit den Einsatzzeiten des Polizisten als möglichen Versuch, sich für den Zeitpunkt der Drohung ein Alibi zu verschaffen.

Seit 2018 ist Polizeikommissar Johannes S. bei vollen Bezügen vom Dienst freigestellt. Dass aktuell noch immer gegen ihn wegen des Tatverdachts der Bedrohung (§241 StGB) ermittelt wird, räumte die Frankfurter Staatsanwaltschaft jedoch nur nach erheblichem Nachdruck ein. Auf konkrete Nachfrage, ob wegen dieses Vorwurfs gegen Johannes S. ermittelt wird, antwortete eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft, ihren bisherigen Äußerungen sei „nichts hinzuzufügen”. Erst nachdem FragDenStaat und das ZDF Magazin Royale unter Verweis auf das Pressegesetz und die Auskunftspflicht der Behörde mit einer Klage drohten, ergänzte die Staatsanwaltschaft, dass wegen des Tatvorwurfs der Bedrohung gegen den Polizisten ermittelt wird.

Zuletzt war von Seiten der Staatsanwaltschaft nur öffentlich kommuniziert worden, dass gegen Johannes S. und seine Kollegin Miriam D. wegen Geheimnisverrat ermittelt wird. In beiden Fällen steht noch im Raum, ob sie die Daten von Seda Başay-Yıldız, die am 2. August 2018 auf dem 1. Frankfurter Polizeirevier abgefragt wurden, an eine andere Person weitergegeben haben.

Die dankbare These vom Einzeltäter

Denn für die Drohserie des NSU 2.0 verurteilt wurde im November 2022 der arbeitslose Informatiker Alexander M. aus Berlin. Laut Gericht soll er als Einzeltäter agiert haben. An Daten aus Polizei- und Meldesystemen, die in den Schreiben verwendet wurden, sei M. über Trickanrufe gekommen. Das Gericht ordnete Alexander M. rund 80 Drohschreiben zu, darunter auch das erste Drohfax vom 2. August 2018. Die Richterin räumte nach dem Urteil ein, dass das erste Drohfax dem Gericht „Kopfzerbrechen” bereitet habe. Trotzdem verurteilte sie Alexander M. auch für dieses Schreiben.

„Für die Staatsanwaltschaft war es wichtig, insbesondere im Hinblick auf das erste Drohfax, also das erste Drohfax am 2. August 2018 eine Verurteilung zu erreichen”, erklärte ein Sprecher der Frankfurter Staatsanwaltschaft nach dem Urteil. Das Fazit: „Und das ist uns gelungen. Und das finden wir gut.“

Dennoch führt die Staatsanwaltschaft wegen dieses ersten Drohschreibens ein Verfahren gegen den Frankfurter Polizisten Johannes S.. Bis heute sind viele Fragen zur Drohserie des NSU 2.0 nicht geklärt. Was wir wissen: Der NSU 2.0 begann im 1. Polizeirevier Frankfurt; als dort Daten abgefragt wurden, während Polizist*innen im Dienst waren, die zusammen eine rechtsextreme Chatgruppe hatten. Auch auf anderen Polizeirevieren wurden später Daten von Opfern des NSU 2.0 abgefragt. Und noch immer werden Drohschreiben verschickt, die mit NSU 2.0 signiert sind – während der angebliche Einzeltäter Alexander M. im Gefängnis sitzt.

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