PressefreiheitFragDenStaat-Chefredakteur angeklagt

Im August veröffentlichte Arne Semsrott Gerichtsbeschlüsse aus laufenden Strafverfahren gegen Mitglieder der „Letzten Generation“. Dafür steht er bald vor Gericht. Die Ursprünge des Straftatbestands liegen im Kaiserreich. 

- Benjamin Zimmermann

eigene Bearbeitung

Bis zu einem Jahr Gefängnis droht dem Chefredakteur von FragDenStaat Arne Semsrott, weil er im August letzten Jahres die Gerichtsbeschlüsse zu den Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und Abhörmaßnahmen gegen Mitglieder der “Letzten Generation” veröffentlichte. Das Problem? Wer im Wortlaut aus laufenden Straf-, Bußgeld- oder Disziplinarverfahren zitiert, macht sich strafbar nach Paragraf 353d Nummer 3 des Strafgesetzbuches (StGB). Das führt dazu, dass Journalist*innen nur verkürzt und paraphrasiert berichten können. 

Nach Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft wurde Arne nun angeklagt. Gerne würden wir die Anklageschrift veröffentlichen, doch auch das wäre ein Verstoß gegen das Strafgesetzbuch. Doch wir sind überzeugt davon, dass der Straftatbestand verfassungswidrig ist. Deshalb hat FragDenStaat zusammen mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte eine Stellungnahme bei der Staatsanwaltschaft eingereicht. 

In diesem Beitrag wollen wir die lange und unrühmliche Geschichte des Straftatbestandes beleuchten: vom Kaiserreich, über die Flick-Parteispendenaffäre bis hin zum massenhaften Aktenschreddern im Kanzleramt. Immer wieder saßen Journalist*innen durch das Publikationsverbot auf der Anklagebank. Das ist kein Zufall, sondern hat historische Gründe. 

Ein Paragraf aus dem Kaiserreich

Die Ursprünge des Paragrafen 353d Nummer 3 Strafgesetzbuch fallen in eine Zeit, in der sich die europäischen Monarchien bedroht sahen. Im Jahr 1874 trat das „Reichspressegesetz“ im noch jungen Deutschen Kaiserreich in Kraft. Laut Paragraf 17 des Gesetzes war es nun der Presse verboten, Dokumente aus einem laufenden Strafverfahren zu veröffentlichen.

Zu dieser Zeit  wurden  zahlreiche  Verlage und Zeitungen gegründet. Im Jahr 1906 gab es 4.000 unterschiedliche Tageszeitungen – eine Summe, die nie wieder überschritten wurde. Dabei wurden Zeitungen selbstbewusster und kritischer. Nicht kaisertreue Meinungsbeiträge nahmen zu.

In dieser Vielfalt war die Presse plötzlich eine Macht im Kaiserreich und somit eine Gefahr für die  Monarchie geworden. War die Verabschiedung des Reichspressegesetz im Jahr 1874 noch von einem liberalen Geist getragen, so wurde spätestens mit den sogenannten „Sozialistengesetzen“ des Reichskanzlers Bismarck die Presse schärfer verfolgt.  Strafverfahren gegen Redakteur*innen und Herausgeber*innen waren an der Tagesordnung. Allein das Reichsgericht, der oberste Gerichtshof im Kaiserreich, beschäftigte sich bis zum Jahr 1918 30 Mal mit dem Publikationsverbot aus Paragraf 17. 

Und schon damals wurde der Paragraf scharf kritisiert: „Wohl die verfehlteste Bestimmung des RPG ist sein § 17: irreführend und ungeschickt in der Fassung, ungeeignet zur Erreichung der erstrebten Ziele“, so der Berliner Professor für Strafrecht Hermann Mannheim im Jahr 1927. Eine Beeinflussung von Richtern und Zeugen lasse sich durch beschreibende Zeitungsberichte viel eher erreichen als durch die Veröffentlichung der Anklageschrift.

Trotz Kritik blieb der Paragraf weiterhin bestehen, jedoch fristete er in den darauffolgenden Jahren ein Schattendasein. Nach 1945 wurde das Publikationsverbot in manche Landespressegesetze überführt, in anderen wurde es ganz gestrichen. Bis in die 1970er Jahre gab es kein einziges Strafverfahren. Erst die Neufassung des Strafgesetzbuches im Jahr 1974 sollte es wieder aus der Versenkung holen.

Journalist*innen im Visier

Das Publikationsverbot findet sich seitdem im Paragrafen 353d Nummer 3 des Strafgesetzbuches. Wurde zuvor nur die Presse sanktioniert, gilt seither jede Veröffentlichung von Dokumenten aus laufenden Verfahren als Straftat. Somit sollten auch Rundfunk, Film und Fernsehen miteinbezogen werden. Und obwohl die vorangegangenen Normen der Landespressegesetze ein halbes Jahrhundert nicht angewandt wurden, adelte die  Gesetzesbegründung das Publikationsverbot als einen für „die Gerichtsberichterstattung wichtigen Rechtsstoff“.

Mit der Novellierung kam nun das Publikationsverbot wieder zur Anwendung – so unter anderem Mitte der 1980er Jahre. Der Stern hatte über die Flick-Parteispendenaffäre berichtet und dabei Auszüge aus Protokollen von Zeugenvernehmungen im Wortlaut veröffentlicht. Die Journalist*innen wurden angeklagt, weil sie gegen Paragraf 353d Nummer 3 verstoßen hatten. Das Amtsgericht Hamburg zweifelte an der Verfassungsmäßigkeit des Straftatbestandes und legte die Frage dem Bundesverfassungsgericht vor. Dieses hielt ihn für verfassungsmäßig, attestierte der Norm jedoch einen „wenig wirksamen Schutz der Rechtsgüter“.

So blieb das Publikationsverbot in Kraft und führte in den folgenden Jahren zu weiteren Verurteilungen. Im Jahr 2001 standen zwei Journalist*innen der Wochenzeitung Die Zeit vor Gericht. Sie hatten unter dem Titel „Operation Löschtaste“ über das Schreddern von Akten aus dem Kanzleramt berichtet. Kurz vor der Regierungsübernahme 1998 seien brisante Unterlagen aus den Jahren Helmut Kohls gezielt vernichtet worden. Hierbei zitierten sie aus Anhörungsprotokollen, die der Sonderermittler der Bundesregierung erstellt hatte. Trotz eines überragenden öffentlichen Interesses wurden die Journalist*innen auch in diesem Fall verurteilt. 

Brauchen wir das Publikationsverbot wirklich? 

Diese Beispiele zeigen, in welchem Umfang die Presse durch das Publikationsverbot eingeschränkt wird. Zum einen wird eine korrekte Berichterstattung kriminalisiert. Zum anderen bleibt für viele Redaktionen undurchsichtig, was vom Publikationsverbot umfasst ist. So sehen viele aus Furcht vor Konsequenzen von einer Berichterstattung ab, auch wenn sie nicht strafbewehrt ist. Deshalb fordern journalistische Verbände seit längerer Zeit die Abschaffung des Straftatbestands.

Zudem wird nicht nur in die Freiheit der Presse eingegriffen, sondern auch die öffentliche Debatte eingeschränkt. Auch deswegen hat Arne die Gerichtsbeschlüsse zur “Letzten Generation” veröffentlicht. Wir sollten darüber diskutieren, ob eine Demokratie eine Strafnorm aus dem Kaiserreich haben sollte, die die Arbeit der Presse einschränkt.

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