Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland im regionalen Kontext Ursachen – Hintergründe – regionale Kontextfaktoren

Abschlussbericht des Forschungsprojekts "Ursachen und Hintergründe für Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und fremdenfeindlich motivierte Übergriffe in Ostdeutschland sowie die Ballung in einzelnen ostdeutschen Regionen" - Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung unter der Leitung von Prof. Dr. Franz Walter im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer – Wiederveröffentlichte, überarbeitete Fassung, Nov. 2017 – Autoren Danny Michelsen, Marika Przybilla-Voß, Michael Lühmann, Martin Grund, Hannes Keune und Florian Finkbeiner

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Oststudie

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RECHTSEXTREMISMUS UND FREMDENFEINDLICHKEIT IN OSTDEUTSCHLAND IM REGIONALEN KONTEXT Die Autoren gehen hier auf Basis von Putnams Theorie der Genese sozialen Kapitals in zivilgesellschaftlichen       Netzwerken       (vgl.   Putnam 2000)     und  von    Erkenntnissen       aus    der Vertrauensforschung (Offe 2001) davon aus, dass der Aufbau sozialen Kapitals eine „starke“ Form des Vertrauens voraussetzt, die auf der begründeten Annahme beruht, „dass die anderen [Akteure] im Prinzip wohlgesonnen sind und die Kooperation allen Beteiligten nützt“.                 10 Dieser Fokus auf Vertrauen/Misstrauen ist deshalb sinnvoll, weil Strobl et al. in dem unter den EinwohnerInnen verbreiteten Eindruck, in einer „Täuschungsdemokratie“ zu leben, die keine wirklichen Mitspracherechte biete, eine wichtige Ursache für politische Entfremdung und die daraus folgende 11 Akzeptanz rechtsextremer Geländegewinne erkennen (vgl. Strobl et al. 2003: S. 93). Andreas Klärner zeichnet in einer Feldstudie die Transformation der Aktionsformen der rechtsextremen „A-Stadt“   12 nach und stellt dabei fest, dass seit 1999/2000 ein Strategiewechsel dieser Szene zu beobachten ist, der sich in einer bewussten Abkehr von spontaner Gewalt und in einer Hinwendung zu zivilen Aktionsformen und zum parteiförmigen Rechtsextremismus äußert (vgl. Klärner 2006; 2008): Ein Teil der Kameradschaften tritt in die NPD ein; Mahnwachen werden organisiert und eine Jugendinitiative für die Errichtung eines „nationalen Jugendzentrums“ wird gegründet; bei öffentlichen Veranstaltungen wird die „Strategie der Wortergreifung“ angewendet – all das mit dem Ziel, die 13 Akzeptanz rechtsextremer Positionen innerhalb der Bevölkerung zu                         erhöhen.       Dass es RechtsextremistInnen in abdriftenden ländlichen Regionen Ostdeutschlands am besten gelingt, sich als „Kümmerer“ zu etablieren, indem sie ihr Engagement an verbreiteten Ängsten, etwa vor dem demografischen Wandel und seinen Folgen, ausrichten, dabei aber nationalsozialistische Ideologeme wie z.B. das „Landflucht ist Volkstod“-Motiv transportieren, wird erst seit Kurzem von der Forschung anhand lokaler Beispiele aufgearbeitet (Quent 2014). 10 Strobl et al. (2003: 36) berufen sich hier auf Offe/Fuchs (2001: 419). 11 Dass die Potenzierung des Misstrauens innerhalb der Bürgerschaft und in Prozessen kollektiver Entscheidungsfindung, das ja gerade die Grundlage für die Ausbildung einer „kontestatorischen Demokratie“ und die für sie charakteristischen Mechanismen „aktiver Kontrolle“ bildet (Pettit 1997: 195ff.), einen für die Erklärung politischer Entfremdung und rechtsextremer Einstellungen sehr ambivalenten Faktor bildet, kann in diesem Literaturbericht nur angedeutet werden, wird aber in unseren Analysen eine zentrale Grundannahme darstellen: Zwar benötigt ein System, das einerseits mehr Vertrauen generiert, andererseits auch mehr Misstrauen, damit eine ausreichende gesellschaftliche Kontrolle der durch die Vertrauensschübe ermöglichten positiven Koordinierungen sichergestellt wird; doch letztlich, so Luhmann, „kann nur in Systemen, denen vertraut wird, Mißtrauen so institutionalisiert und begrenzt werden, daß es nicht persönlich zugerechnet und zurückgegeben wird, also vor Ausuferung in Konflikte bewahrt bleibt“ (Luhmann 2009: 117f., 124). 12 Mittlerweile ist bekannt, dass es sich bei dem von Klärner anonymisierten Untersuchungsgebiet um Jena handelt. Vgl. Schulze 2017: 78. 13 Zudem wird in der Sekundärliteratur konstatiert, dass „im Unterschied zu den Neonazis in den alten Ländern […] sich die Neonazis in den neuen Ländern auch weniger am historischen Nationalsozialismus [orientieren] und […] nicht nur aus taktischen Gründen antiamerikanische, antiglobalistische und antikapitalistische Parolen in den Vordergrund stellen. Darüber hinaus konzentriert man sich stärker auf die Probleme in der jeweiligen Region, also etwa kommunale Konfliktthemen und soziale Missstände vor Ort.“ (Pfahl-Traughber 2009: 98f.) Entsprechend sei auch das Verhältnis der freien Kräfte zur NPD enger als in Westdeutschland. 7
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ABSCHLUSSBERICHT Heitmeyer/Grau monieren, dass es so gut wie keine Studien gebe, die Rechtsextremismus auf „die Art, Konzentration und Konsequenzen von feindseligen Mentalitäten im Wohnumfeld“ zurückführen würden (Heitmeyer/Grau 2013: 24). Deshalb sei bei der Auswahl der InterviewpartnerInnen und der FokusgruppenteilnehmerInnen darauf zu achten, dass hier (auch) Personen aus Wohnvierteln mit gehäuften Gewaltereignissen rekrutiert würden. In einer (in dem von Heitmeyer/Grau herausgegebenen Band veröffentlichten) Lokalstudie über „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) in der Stadt Dresden wird nachgewiesen, dass das Wohnumfeld tatsächlich eine wichtige Rolle spielt: „Befragte, die angeben, dass sich ‚die allgemeine finanzielle Lage der Bewohner‘, ‚die berufliche Situation der Jugendlichen‘ und ‚der Einsatz der örtlichen Politiker für das Viertel‘ verschlechtert hat, sind seltener zu einem Engagement gegen Rechtsextremismus bereit.“ (Wandschneider 2013: 235f.) Interessanter ist aber ein anderes Ergebnis dieser Studie: Im Vergleich der Ortsamtsbereiche Altstadt und Prohlis, in denen große soziale Probleme existieren, mit dem Villenviertel Loschwitz fällt auf, dass die Befragten in Loschwitz zwar die eigene wirtschaftliche Lage am positivsten bewerten, dabei allerdings ebenso hohe Werte individueller relativer Deprivation aufweisen wie die Befragten in den anderen beiden Stadtteilen. Zudem sind hier mehr Befragte der Meinung, Rechtsextremismus werde in den Medien „hochgekocht“; und der Anteil derjenigen, die der NPD Lösungskompetenzen zutrauen, ist hier im Vergleich mit allen Dresdner Ortsamtsbereichen am größten (vgl. ebd.: 242). Gerade hier, in Dresden, zeigt sich demzufolge, dass Rechtsextremismus bzw. dessen Verharmlosung keineswegs nur ein Problem der absolut deprivierten Bevölkerungsschichten ist. Julia Marth (2013) hat auf der Grundlage von Befragungen in jeweils zwei ost- und westdeutschen Gemeinden – Anklam und Wernigerode, Bad Nenndorf und Pirmasens – den Zusammenhang zwischen wahrgenommener politischer Machtlosigkeit und Fremdenfeindlichkeit untersucht und die Frage gestellt, ob die Erfahrung sozialer Kohäsion diesen Zusammenhang relativiert. Anknüpfend an eine Studie von Forrest/Kearns (2001) identifiziert Marth fünf Bereiche, mit denen soziale Kohäsion gemessen werden kann: 1. Werte und Zivilgesellschaft, 2. Soziale Ordnung und Kontrolle, 3. Soziale Solidarität und Reduktion von ökonomischen Ungleichheiten, 4. Soziale Netzwerke und soziales Kapital, 5. Lokale Verbundenheit und Identität. Die entsprechend dieser Faktoren operationalisierten Items beeinflussen insgesamt nur in sehr begrenztem Maße die Fremdgruppenabwertung, wirken aber in den vier untersuchten Orten auf sehr unterschiedliche Weise: Während z.B. in Anklam die wahrgenommene Qualität der lokalen sozialen Ordnung sowie die positive Bewertung der wirtschaftlichen Lage vor Ort mit einem geringeren Grad an Fremdenfeindlichkeit einhergehen, lässt sich in Wernigerode überhaupt keine Korrelation von sozialer Kohäsion und Fremdenfeindlichkeit feststellen. Hier zeigt sich also erneut, dass die Vorstellung, die Ursachen von Rechtsextremismus ließen sich mit einem auf alle lokalen Kontexte gleichermaßen anwendbaren holistischen Erklärungsmodell rekonstruieren, abwegig ist. Hinzu kommt aber, dass – und dies wird von Marth unterschlagen – das Gefühl „sozialer Kohäsion“ ein sehr ambivalenter Faktor hinsichtlich der Abwehr rechtsextremer 8
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RECHTSEXTREMISMUS UND FREMDENFEINDLICHKEIT IN OSTDEUTSCHLAND IM REGIONALEN KONTEXT Einstellungen ist – setzt es doch eine Form kollektiver Identität voraus, die, wie wir noch sehen werden, immer mit einer Abgrenzung gegenüber einem Außen, einer negativen Identität, einhergeht. In den meisten Vergleichsstudien der vergangenen Jahre wurden die Untersuchungsregionen eher deduktiv nach dem Prinzip des minimal kontrastiven Vergleichs ausgewählt: Entweder waren es Gemeinden im „ländlichen Raum“ (Buchstein/Heinrich 2010; Hafeneger/Becker 2008), „Kleinstädte“ (Strobl et al. 2003) oder „abwärtsdriftende Regionen“ (Hüpping/Reinecke 2007), die näher untersucht wurden. Die einzigen Strukturmerkmale, die den von uns ausgewählten Regionen gemein sind, sind die geografische Lage in Ostdeutschland und die auffällige Häufung fremdenfeindlicher Protest- und/ oder Gewaltereignisse im Jahr 2015. Wie wir gleich noch näher ausführen werden, gehen wir davon aus, dass die geografische Lage in Ostdeutschland einen politisch-kulturellen Deutungsrahmen begründet, der zwar die regionalen Spezifika, denen unser Interesse gilt, nicht überdeterminiert; aber um kohärente Erzählungen über diese Besonderheiten und die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre zu formen, sind die befragten AkteurInnen gezwungen, sie im Lichte der Wendeerfahrungen und der DDR-Zeit zu interpretieren. 9
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ABSCHLUSSBERICHT 2. Sozialraumanalyse, Datenerhebung und Methoden Für die Untersuchung von Rechtsextremismus in lokalen Kontexten bieten sich vergleichende 14 Sozialraumanalysen an.       Hierfür greifen wir auf Überlegungen von Heitmeyer/Grau (2013) und 15 Quent (2015a)      zurück.      Quent     unterscheidet   drei   Analyseebenen:   A)   Kontextfaktoren, B) Angebotsstrukturen des organisierten Rechtsextremismus und C) rechtsextreme Geländegewinne. A) Die Kontextfaktoren lassen sich in drei Ebenen differenzieren: 1. Auf der Makroebene muss aus der Sicht der AkteurInnen die Bewertung ökonomischer und politischer Kontextbedingungen analysiert werden, die zu Desintegrationserfahrungen führen können. Dazu zählen die allgemeine wirtschaftliche Lage, die Bevölkerungsstruktur und -entwicklung, der AusländerInnen- und MigrantInnenanteil, die Freizeit- und Kulturangebote, die Siedlungsstruktur und – sehr allgemein – die politische Kultur insgesamt. 2. Auf der Mesoebene werden sozialmoralische Milieus und deren Perspektiven auf „gegnerische“ Weltvorstellungen untersucht. Oft wird die sogenannte politische Kultur auch hier – als das verbindende Element zwischen politischer Struktur und Individuen – angesiedelt (vgl. Westle 2009: 18). Heitmeyer/Grau schlagen vor, sich auf sechs solcher vermittelnden Faktoren zu konzentrieren: I) Konflikte im Wohnumfeld: Gibt es Anerkennungs- bzw. Ressourcenkämpfe in bestimmten Stadtvierteln oder darüber hinaus? II) Soziale Kohäsion: Wie gestaltet sich der soziale Zusammenhalt in der Bevölkerung? III) Anomia: Damit wird – wie wir gleich noch ausführlicher erläutern werden – die „Normlosigkeit“ von Gruppen und Individuen in Reaktion auf bestimmte gesellschaftliche Transformationsprozesse beschrieben. Hier wäre zu erörtern, welche lokalen Besonderheiten derartigen Reaktionen förderlich sind. IV) Wahrgenommene Bedrohung. V) Autoritäre Aggression, die sich in einer Häufung lokaler Gewaltereignisse äußert. VI) Umgang mit Rechtsextremismus (vgl. Heitmeyer/Grau 2013: 25ff.). 3. Auf der Mikroebene werden individuelle Dispositionen und Orientierungen (wie die in der sozialpsychologischen Rechtsextremismusforschung hinlänglich bekannten Variablen der sozialen Dominanzorientierung und des Autoritarismus) registriert (vgl. Frindte/Geschke 2016: 156ff.). B) Für die Analyse der Angebotsstrukturen des Rechtsextremismus sollte einerseits zwischen formell organisiertem Rechtsextremismus, der neben Parteien wie der NPD auch vereinsförmige Bürgerinitiativen    umfasst,    und     informell   organisiertem   Rechtsextremismus,  dem    stärker bewegungsförmige Strukturen zuzuordnen sind, sowie der rechtsextremen Jugend- und Subkultur unterschieden werden. Darüber hinaus differenziert Heitmeyer (2002: 506) vier Arten rechtsextremer Angebotsstrukturen: 1. Diskursangebote, die von den intellektuellen Eliten einer Region verbreitet 14 Für einen neueren Überblick: Dörfler (2013). 15 Zum Folgenden: Quent (2015a: 22ff.). 10
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RECHTSEXTREMISMUS UND FREMDENFEINDLICHKEIT IN OSTDEUTSCHLAND IM REGIONALEN KONTEXT werden und so zu einer Normalisierung von Ungleichwertigkeitsvorstellungen und zu einer Akzeptanz von Gewalt beitragen; 2. Zugehörigkeitsangebote, die sich aus Orientierung stiftenden politischen und kulturellen      Angeboten    wie   Musik    und     Kleidung   speisen;    3. Politische    Wahlangebote; 4. Aktionsangebote wie Demonstrationen oder Besuche von Fußballspielen. C)     Hier    kann   man,    ebenfalls  an   Heitmeyer (1999: 72)    anknüpfend,       vier  Stufen  von „Geländegewinnen“ unterscheiden: 1. Provokationsgewinne, welche die erfolgreiche Etablierung von 16 Rechtsextremen als ernstzunehmende AkteurInnen durch vereinzelte Aktionen bezeichnen. 2. Räumungsgewinne: Den Rechtsextremen gelingt die dauerhafte Verdrängung zivilgesellschaftlicher Gegen-AkteurInnen aus dem öffentlichen Raum. Im Extremfall – wie im Anschluss an einige der fremdenfeindlichen Ausschreitungen Anfang der 1990er Jahre – erreichen Rechtsextreme mit ihren Aktionen sogar die Evakuierung von AsylbewerberInnen aus einer Region. 3. Auf der folgenden Stufe der Raumgewinne nutzen rechtsextreme AkteurInnen die Möglichkeit, ihre Macht öffentlich zu demonstrieren und auf diese Weise bestimmte Terrains dauerhaft als Angstzonen zu markieren (vgl. Bundschuh 2004). 4. Normalitätsgewinne, „von denen gesprochen wird, wenn es dem organisierten Rechtsextremismus gelingt, sich als akzeptierten politischen Akteur zu etablieren. Ist er normalisiert, wird er nicht mehr kritisch thematisiert und etwaige Verdrängungskämpfe gegen Feindgruppen, bspw. vermeintlich migrantische oder ausländische Menschen, werden stillschweigend akzeptiert.“ (Quent 2015a: 28) Für die Erhebung der Daten, auf deren Basis die skizzierten Kontextfaktoren, rechtsextremen Angebotsstrukturen und Geländegewinne rekonstruiert werden sollen, bietet sich ein Methodenset an, das leitfadengestützte ExpertInnen- und Fokusgruppeninterviews, teilnehmende Beobachtung sowie Dokumenten- und Materialanalysen miteinander verbindet. Einzelinterviews: Das Einzelinterview stellt als Erhebungsform eine äußerst gängige und wichtige Methode der qualitativen Sozialforschung dar (vgl. Flick 1991; Lamnek 2002; Rosenthal 2005). Es kann dem/der ForscherIn einen tiefen Einblick in die Perspektiven, Problematiken und Wahrnehmungen der einzelnen AkteurInnen innerhalb des untersuchten Feldes vermitteln. Zu jedem Interview wurden thematisch an das Handlungsfeld des/der jeweiligen Experten/in angepasste Fragenkataloge vorbereitet, die offen genug waren, um den AkteurInnen Raum für freie Erzählpassagen zu geben (vgl. Meuser/Nagel 2009: 472ff.). Die Einzelinterviews dauerten zwischen einer bis maximal drei Stunden. Für diese Gespräche rekrutierten wir vornehmlich VertreterInnen der Stadt- und Lokalpolitik; der Fokus lag hier auf StadträtInnen aus allen politischen Lagern; allerdings war die Bereitschaft, mit uns zu sprechen, nicht immer vorhanden. In Freital etwa gestaltete sich der Zugang besonders schwierig – so 17 schwierig, dass wir dies im analytischen Teil ausführlich beleuchten. Dies gilt, um bei Sachsen zu 16 Zum Begriff der Geländegewinne vgl. auch Borstel (2009). 17 Vgl. Kapitel 4.2. 11
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ABSCHLUSSBERICHT bleiben, aber auch für die regierende CDU. So wurde etwa eine Anfrage an die sächsische 18 Staatsregierung, hier konkret an das Innenministerium, negativ beschieden.                Anfragen an die AfD 19                          20 verliefen gleich gänzlich im Sande: Entweder wurden sie nicht beantwortet oder wegen Zeitmangels abgelehnt, verbunden mit dem vorsorglichen Hinweis, das Themenfeld keinesfalls mit Herrn Höcke in Verbindung zu bringen. Die Deutungen und Berichte derjenigen, die zu einem Gespräch bereit waren, wurden um Gespräche mit Personen aus der Zivilgesellschaft ergänzt, bspw. mit Personen, die sich in regionalen Initiativen gegen Rechtsextremismus oder in der Flüchtlingshilfe engagieren, sowie mit LehrerInnen und SozialarbeiterInnen. Als hilfreich erwies sich dabei auch das für qualitative Forschungen        übliche    „Schneeballverfahren“,       wonach      sich  über    die     Rekrutierung   von 21 GesprächspartnerInnen weitere Gesprächskontakte ergeben. Der vielfach vorgebrachte Vorwurf, wir hätten im Rahmen der Studie hauptsächlich mit eher linken PolitikerInnen und Initiativen gesprochen, geht indes ausweislich der Übersicht in Kapitel 9.1 vollkommen fehl – richtig ist allerdings, dass regionale und politische Schieflagen dennoch entstehen mussten, weil eben VertreterInnen von Union und AfD eine deutlich geringere Gesprächsbereitschaft signalisierten, als dies im Spektrum „links“ der Union der Fall war (Für Hinweise zur Anonymisierung siehe unten sowie Kap. 9.1). Fokusgruppeninterviews: Die Methode der Fokusgruppe gilt in der Sozialforschung als eine besondere Form eines Gruppeninterviews, die den Vorteil bietet, dass „durch die Interaktion in der Gruppe ein möglichst breites Spektrum an Wahrnehmungen der betreffenden Situation zutage tritt und dass durch die wechselseitige Anregung der Gesprächsteilnehmerinnen – durch das ‚share and compare‘ – auch Erinnerungen aktiviert werden,     die   im    Einzelinterview     vergessen     worden    wären“       (Przyborski/Wohlrab- Sahr 2014: 134). Anders als das ExpertInneninterview bietet das Fokusgruppeninterview die Möglichkeit, die biografischen Motive von BewohnerInnen bzw. AnwohnerInnen für die Akzeptanz oder gar Unterstützung – oder aber für die Ablehnung – rechtsextremer Geländegewinne zu erfassen. Diese 18 Anfrage per E-Mail an Innenminister Ulbig vom 11.07.2016, negativ beschieden am 19.07.2016 und auf den Landesverfassungsschutz verwiesen worden. Die Deutung, dass hier der Rechtsextremismus als Sicherheitsproblem, nicht aber als politisches Problem verstanden wird, liegt in gewisser Weise auf der Hand, kann aber selbstverständlich nicht als Faktum ausgewiesen werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist aber schon, dass etwa der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow für ein interview zur Vefügung stand. 19 Vgl. bspw. Anfrage per E-Mail an Norbert Maier vom 08.08.2016, Anfrage per E-Mail an Wiebke Muhsal vom 25.05.2016. 20 Absage per E-Mail vom Büroleiter Bernd Höckes vom 25.05.2016, verbunden mit dem Hinweis, man solle Höcke mit dieser Forschung keinesfalls in Verbindung bringen. 21 In der qualitativen Forschung ist die Fallauswahl nicht mit der Erhebung von Zufallsstichproben gleichzusetzen, bei der Untersuchungseinheiten aus einer vor dem Forschungsprozess fixierten Grundgesamtheit so ausgewählt werden, dass die Ergebnisse von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit verallgemeinert werden können. Vielmehr soll die Auswahl flexibel, schrittweise, einzelfall- und problemorientiert, je nach den bisher erzielten Ergebnissen, bis zur „theoretischen Sättigung“ erfolgen – wobei auch vollkommen üblich ist, auf das „Schneeballverfahren“ zurückzugreifen, bei dem man sich an Hinweisen auf weitere relevante Untersuchungseinheiten, auf die man erst im Laufe der Erhebung stößt, orientiert. 12
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RECHTSEXTREMISMUS UND FREMDENFEINDLICHKEIT IN OSTDEUTSCHLAND IM REGIONALEN KONTEXT biografischen Umstände können auf verallgemeinerbare Sozialisationserfahrungen hinweisen, worauf u.a. auch die Reaktionen der übrigen GesprächsteilnehmerInnen Hinweise geben können. In Freital wurden zwei Fokusgruppen durchgeführt und in Heidenau sowie auf dem Erfurter Herrenberg jeweils eine. Die TeilnehmerInnen wurden mittels Postwurfsendungen, die im Vorfeld an alle Haushalte verschickt wurden, rekrutiert; in Erfurt, wo die ohnehin geringe Rücklaufquote noch schlechter ausgefallen war, zusätzlich durch Verteilung von Wurfzetteln vor Ort. Die Struktur der Fokusgruppengespräche orientierte sich an einem Leitfaden, der auf vier Themenkomplexe fokussierte: 1.) Leben vor Ort, 2.) DDR-Vergangenheit, 3.) Einstellung zur derzeitigen Politik, 4.) eine Gruppenarbeit, bei der die TeilnehmerInnen selbst Zeitungen gestalten sollten und dabei explizit ihre persönlichen politischen Vorstellungen zu Papier bringen konnten. Die jeweiligen Fokusgruppen hatten eine Größe von sechs bis acht TeilnehmerInnen, wobei versucht wurde, die Gesprächsrunden hinsichtlich der Alters- und Geschlechterkategorien sowie hinsichtlich der 22 Berufstätigkeit/Ausbildung/Arbeitslosigkeit/Rente     relativ  heterogen    zusammenzusetzen.        Die politischen Präferenzen der Befragten waren sehr vielfältig, entsprachen aber oft den bisherigen lokalen und regionalen Stimmenverteilungen, wobei sich im Hinblick auf künftige Wahlen eine deutliche Verschiebung zugunsten der Alternative für Deutschland (AfD) konstatieren lässt. Durchgeführt wurden diese Gespräche jeweils direkt in den untersuchten Städten, um den TeilnehmerInnen erstens eine problemlose Anreise zu ermöglichen und ihnen zweitens ein möglichst vertrautes Umfeld zu bieten. In Freital wie auch in Heidenau fiel die Wahl auf lokale Gasthäuser, was sich insoweit als Vorteil erwies, als diese den TeilnehmerInnen bekannt waren und sie sich somit in einer gewohnten Umgebung befanden, während die Wahl in Erfurt aus kontrastierenden Gründen auf ein professionelles Marktforschungsstudio fiel, um eben nicht Gefahr zu laufen, über einen bekannten Ort bereits eine inhaltliche Nähe oder Ferne zu lokalen Einrichtungen zu vermitteln. Alle Fokusgruppen dauerten ungefähr zwei Stunden. Mittels eines kurzen, gezielt auf Lockerung der Situation ausgerichteten Kennenlernens innerhalb der Gruppe samt ModeratorInnenteam sollte die anfangs angespannte Gesprächsatmosphäre gelöst werden, bevor den ModeratorInnen die Aufgabe zukam, möglichst alle DiskutantInnen zur aktiven Teilnahme zu motivieren, Gesprächsimpulse zu setzen und bei einer Erschöpfung des Gesprächsstoffs zu einem neuen thematischen Komplex überzuleiten (Lamnek 2005: 134–137). Nach Abschluss der Fokusgruppengespräche wurden diese transkribiert, um anschließend sowohl eine Grob- als auch eine Feinanalyse des erhobenen Materials vornehmen zu können. 22 Aussagen über Einkommensverhältnisse konnten aufgrund der geringen Beantwortungsquote nicht verlässlich dargestellt werden. 13
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ABSCHLUSSBERICHT Teilnehmende Beobachtung: Hierzu zählen Besuche von öffentlichen Veranstaltungen wie Stadtratssitzungen, Bündnistreffen, Demonstrationen, Fußballspielen sowie Stadt- oder Grillfesten. Daneben geht es aber auch um die Erkundung halböffentlicher und privater Räume, die als Treffpunkte der rechtsextremen Szene bekannt sind, wie z.B. bestimmte Kneipen oder Szeneläden. Mittels dieser Methode war es möglich, ein Gespür für die jeweiligen Orte zu bekommen sowie einen Einblick zu gewinnen, welche AkteurInnen bei welchen Veranstaltungen oder in welchen Räumen präsent sind. Zudem versuchten wir, vor Ort mit den BewohnerInnen sowie BetreiberInnen und BesucherInnen „einschlägig bekannter“ Gaststätten ins Gespräch zu kommen, was indes von unterschiedlichem und häufig nur mäßigem Erfolg gekrönt war. Dokumenten- und Materialanalysen: Die systematische Auswertung vorhandener Aggregatdaten (Wahlergebnisse, Zensusdaten, Kriminalitätsstatistiken etc.) sowie eine qualitative Inhaltsanalyse der Berichterstattung   über    die   Flüchtlingskrise,    rechtsextreme Übergriffe,   Initiativen  gegen Rechtsextremismus sowie über die wirtschaftliche und demografische Entwicklung der Regionen in den jeweiligen Lokalzeitungen diente dazu, die oben beschriebenen Kontextfaktoren zu erfassen. Ergänzt wurden diese Analysen durch Recherchen in den Stadtarchiven sowie die Analyse von Propagandamaterial. Anonymisierung Um mögliche Missverständnisse oder bestehende Unterstellungen endgültig auszuräumen, erläutern wir hier das Verfahren der Anonymisierung, für die es in den Sozialwissenschaften kein „Richtig“ oder „Falsch“ gibt. Dies gilt insbesondere in der Rechtsextremismusforschung, in welcher dem schmalen Grat zwischen der notwendigen Benennung von personeller Verantwortung – von rechten AkteurInnen und Netzwerken und deren ihr Agieren begünstigendem oder behinderndem Umfeld – einerseits und notwendigen Hinweisen potenziell bedrohter InterviewpartnerInnen andererseits Rechnung getragen werden muss. Gemäß der gängigen Praxis qualitativer Forschung haben wir uns dafür entschieden, die Klarnamen unserer InterviewpartnerInnen mehrheitlich zu verfremden bzw. zu anonymisieren, es sei denn, zum Zeitpunkt der Drucklegung lag uns eine ausdrückliche Freigabe der Interviewpassagen vor. Selbstverständlich liegen für alle zitierten Passagen Tonbandaufnahmen und Transkripte vor. Bei der Erstnennung der Interviewten ist dies in einer Fußnote ausgewiesen, im weiteren Fließtext sind die anonymisierten GesprächsparterInnen zudem kursiv gesetzt. In der Übersicht in Kapitel 9.1 sind die durch Verfremdung des Nachnamens anonymisierten GesprächspartnerInnen mit einem Asterisk (*) hinter dem Namen markiert; die grundsätzlich anonymisierten TeilnehmerInnen der Fokusgruppen werden nicht gesondert ausgewiesen. Im Falle des Erfurter Herrenberges ist der Grad der Anonymisierung aufgrund der noch stärkeren Kleinräumigkeit letztlich entsprechend noch stärker 14
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RECHTSEXTREMISMUS UND FREMDENFEINDLICHKEIT IN OSTDEUTSCHLAND IM REGIONALEN KONTEXT ausgefallen; hier wird nur ganz allgemein von politischen AkteurInnen, ZivilgesellschafterInnen etc. 23 gesprochen. Nochmals: Diese Anonymisierung geschah auch in Anbetracht des brisanten Themenkomplexes und der in sehr kleinräumigen Bereichen durchgeführten Interviews sowie der damit einhergehenden potenziellen      Gefährdung      unserer     InterviewpartnerInnen.      Insbesondere      infolge     des Sprengstoffanschlages in Freital im Jahr 2015 auf das Fahrzeug eines Linkspartei-Politikers, der Freital ob der latenten Bedrohungslage inzwischen verlassen will, war dies für unsere InterviewpartnerInnen häufig die Grundvoraussetzung, mit uns zu sprechen. Auch die in der Studie von den AutorInnen beschriebene Sorge, dass offene Kritik als „Nestbeschmutzung“ verunglimpft werden könnte, was dann wiederum Probleme in der weiteren politischen Auseinandersetzung nach sich ziehen könnte, die dann auch in der Debatte um die erste Fassung des Berichtes zu vernehmen war, ist ein weiterer Grund für die notwendige Anonymisierung. 23 Nochmals: Je nach Brisanz und möglicher Wiedererkennung vor Ort haben wir also unterschiedliche Stufen der Anonymisierung gewählt – d.h. entweder eine allgemeine Beschreibung der Position/Funktion des Interviewpartners/der Interviewpartnerin oder, insbesondere, wenn Verwechslungsmöglichkeiten bezüglich Position/Funktion bestanden, auch durch Verfremdung der Namen. Letzteres gilt insbesondere für die FokusgruppenteilnehmerInnen – bei dieser Methode ist der Verzicht auf Klarnamen ein vollkommen gängiges, den Normen guten wissenschaftlichen Arbeitens entsprechendes Verfahren. 15
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ABSCHLUSSBERICHT 3. Rechtsextremismus in Ostdeutschland 3.1 Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Zeiten der „Entsicherung“ Auch wenn Rechtsextremismus oft und durchaus zutreffend durch die Kurzformel einer „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ charakterisiert wird (Heitmeyer 2008), so handelt es sich dabei doch keineswegs um eine einheitliche Ideologie im Sinne eines in sich geschlossenen, konsistenten Weltbildes, sondern um      ein      „vielschichtiges      Einstellungsmuster“,     „dessen    verbindendes         Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen“ und das sich aus den „Items Nationalismus, Ethnozentrismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Pro-Nazismus, Befürwortung einer Diktatur und Sexismus zusammensetzt“ (Stöss 2010: 22, 60). Der kleinste gemeinsame Nenner ist „der Wille und Wunsch nach einer spezifischen Antimoderne in der Moderne“ (Klärner/Kohlstruck 2006: 32), die zwar technologischen Fortschritt und marktwirtschaftliche Strukturreformen bejaht, aber gegen die damit zwangsläufig einhergehende Rationalisierung der Lebenswelt, die Auflösung tradierter Hierarchien und Ordnungsmuster opponiert (vgl. Frindte/Geschke 2016: 150f.). Die Affinität zu rechtsextremen Einstellungsmustern ist somit Ausdruck einer „kollektiven Regression“ als Reaktion auf soziale Differenzierungsprozesse: „[D]ie Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies ohne Klassen, ohne Parteien, ohne Parlamente und ohne Interessenantagonismen […]. Rechtsradikale Bewegungen sind getragen von blinder Wut auf die mit dem Zivilisierungsprozeß einhergehenden Versagungen, einer Wut, die sich nun in kanalisiertem Haß gegen die äußeren Feinde entlädt.“ (Lenk 1994: 339)       24 Dies deutet bereits daraufhin, dass zwischen unterschiedlichen Dimensionen rechtsaffiner Einstellungen unterschieden werden muss – zwischen „Denken“ und „Handeln“ einerseits sowie innerhalb dieser Kategorien andererseits (vgl. Neu/Pokorny 2015). Es gilt, den Zusammenhängen zwischen Ursache, Bedingung und Konsequenz auf den Grund zu gehen. Erst dann wird verständlich, was es mit dem „rechten Aufbegehren“ in den letzten Jahren in einzelnen Regionen, eben vor allem in Ostdeutschland, auf sich hat, wie Pegida, die AfD, rechte Jugendkulturen, allgemeine antidemokratische Tendenzen und Stimmungen sowie Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte zusammenhängen. Wie jede Form politischen Denkens und Handelns „[unterliegt], was als Rechtsextremismus gilt, gesellschaftlichen,     politischen   und    wissenschaftlichen    Diskursen   und     Kräfteverhältnissen“ (Klärner/Kohlstruck 2006: 14). Zudem reagiert der organisierte Rechtsextremismus selbst auf diese hegemonialen Diskurse, was die Forschung zwingt, Kategorien zu überdenken, die sich in der Realität 24 Zur Deutung der Wahlerfolge der Neuen Rechten in den 1980er Jahren als Ausdruck einer silent counter- revolution (in Anspielung an Ingleharts These vom postmateriellen Wertewandel) vgl. Ignazi (1992). 16
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