Lrmmedizin.GAzumPFBVF2HauptteilI.pdf
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Lärmmedizinisches Gutachten Flughafen Hamburg“
Hauptteil Kapitel 2: Einleitung Lärmwirkungen brauchbar, wenn unter einer ganzheitlichen Betrachtung ihre Verzahnung nicht außer Acht gelassen wird. 2.5 Lärm und chronobiologische Aspekte Alle psychobiologischen Prozesse, d.h. geistige, emotionelle, vegetative, hormonelle und immunologische Funktionen verlaufen nach einem zirkadianen Rhythmus (zirka = etwa, dies = Tag). 1 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 Aktivierung 5 8 a E & ot n 8 8 8838. 8 2333 rrrrerrrerr N 233 ß Abb. 2.9: Tagesverlauf der Aktivierung bzw. Sensibilität Die für die Lebensweise des Menschen wichtigsten Funktionen haben morgens einen Anstieg (instabile Phase), erreichen am frühen Vormittag ein hohes Niveau (stabile Phase), welches in der Mittagszeit durch einen geringen Abfall (instabile Phase) auf ein etwas geringeres Nachmittagsniveau eingestellt wird (stabile Phase). Am Abend erfolgt ein steiler Abfall (instabile Phase) und die Einstellung auf das niedrige Ruhe- bzw. Schlafniveau. Auf diese Weise finden wir im Verlauf des 24-Stunden-Rhythmus Zeitbereiche hoher Aktivierung und geringer Sensibilität gegenüber Umwelteinflüssen. In den instabilen (Üergangsphasen Ruhe-Wach-Wach-Ruhe) Phasen ist die Empfindlichkeit gegenüber Umwelteinflüssen besonders hoch. Die Verläufe des vegetativ hormonellen Regulationssystems haben unter Ruhebedingungen einen relativ stabilen zirkadianen Rhythmus. Diese chrono-psychobiologischen Gesetzmäßigkeiten haben auch für die Lärmbeanspruchung Gültigkeit. Desweiteren ist zu bemerken, daß häufig auftretende oder permanente Lärmbeanspruchung den zirkadianen rhythmischen Verlauf von Körperfunktionen deformieren kann und somit auch die funktionelle Zeitorganisation (innere Uhr), wodurch zusätzlicher Streß entsteht. 14 von 93
Hauptteil Kapitel 2: Einleitung 2.6 Einige Bemerkungen zum Streßhormon Kortisol und dem zirkadianen Rhythmus Das Kortisol wird auch als Wachhormon bezeichnet, weil es normalerweise am Tage die entsprechende Vigilanz gewährleistet und nachts durch seinen niedrigen Blutspiegel den Schlaf mit garantiert, in dem es funktionell gesehen “ruht”. Wie alle vegetativ-hormonellen Parameter hat auch das Kortisol einen zirkadianen Rhythmus, der sein Maximum am Vormittag und mit einer Abschwächung am Nachmittag und das Minimum in der Nacht aufweist. Befindet sich ein Mensch im Dauerstress, dann folgt daraus eine Deformation des zirkadianen Rhythmus und somit die Störung oder Zerstörung der funktionellen Tageszeitstruktur [Perry 1990]. Eine gestörte Zeitstruktur wird als Desynchronose bezeichnet, die mit Streß einhergeht. Die Erhöhung des Kortisolspiegels im Blut in der Nacht z.B. infolge Verkehrslärms, stört zusätzlich die zeitlich (rhythmisch) organisierte Struktur wesentlicher Körperfunktionen und die zyklische Struktur des Schlafes. (vgl. Anhang B, Kap. 5) 2.7 Lärm und die Struktur des Schlafes Lärm stört den Schlafenden nicht nur im Sinne einer subjektiven Lästigkeit durch bewußtes Erwachen, sondern er kann auch unterhalb der Weckschwelle zu tiefgreifenden Veränderungen in der Schlafstruktur (u.a. im EEG nachweisbar) führen. In diesem Zusammenhang ist besonders die Fragmentierung der genannten Schlafstruktur, die Reduzierung des REM- Schlafes (Störung der geistig-emotionellen Vorgänge) und längere Zeitabschnitte des oberflächlichen Schlafs zu nennen. Die Folge davon ist Streß mit weiterer Erhöhung des Kortisolspiegels im Blut und somit eine minderwertige Erholung in der Nacht sowie einer erhöhten Müdigkeit am Tage. Optimal verläuft ein Nachtschlaf, wenn die REM-Zyklen und der entsprechende altersgemäße prozentuale REM-Anteil am Gesamtschlaf gewährleistet werden (vgl. Anhang B, Kap. 5). 2.8 Zur gesundheitsschädigenden Wirkung des Lärms Die gesundheitsschädigende Wirkung des Lärms ist nicht einfach zu beurteilen, weil sie a) keiner unmittelbaren, sondern einer chronisch verlaufenden Pathogenese unterliegt b) die Resistenz gegenüber gesundheitsbeeinträchtigenden Lärmwirkungen großen individuellen Schwankungen unterliegt c) die Einwirkungsdauer des Lärms und Erholungsmöglichkeiten in lärmfreien Zeiten eine große Rolle spielen. Der Nachweis einer gesundheitsschädigenden Wirkung von Lärm ist eng mit dem Begriff der Gesundheit verbunden. So wird von vielen Medizinern erst dann von Gesundheitsschädigung gesprochen, wenn organische Schäden vorliegen, andere meinen, daß bereits funktionelle Störungen und Einschränkung der Lebensqualität die Gesundheit beeinträchtigen und berufen sich auf die WHO-Definition [WHO 1986]. Diese besagt, daß Gesundheit nicht allein ein Freisein von Krankheit sondern auch das Vorhandensein von körperlichem, geistig- emotionellen und sozialem Wohlbefinden bedeutet. Der 1986 von der Weltgesundheits- organisation verabschiedeten Charta zur Gesundheitsförderung liegt ein erweitertes m — — 15 von 93
Hauptteil Kapitel 2: Einleitung Gesundheitsverständnis zugrunde, das neben körperlichen und psychosozialen Faktoren auch die Selbstbestimmung des Menschen einbezieht. Gesundheit verlagert sich somit in den (Er-)Lebensbereich des Subjektes. Einzelne Komponenten wie biologische Funktionsfähigkeit, soziokulturelle Leistungsfähigkeit oder individuelle Gestaltungsfähigkeit stellen als Gesamtheit Gesundheit dar. Wir stellen das lärmmedizinische Gutachten vor allem auf Zumutbarkeitsgrenzen ab, die sich an der biologische Funktionsfähigkeit orientieren. So sehen wir funktionelle Dysregulationen, wie Veränderungen der Blutdruckwerte oder einen frakmentierten Schlafverlauf als Gesundheitsgefährdung an. Darüberhinaus belegen zahlreiche Untersuchungen, daß Lärm z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursacht. (Anhang B, Kap. 4) 2.9 ‘Lärm und Lebensqualität Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, daß die Regulation das Grundprinzip des Lebens ist. Sie gewährleistet das Gleichgewicht (Homöostase) des inneren Milieus eines Lebewesens und koordiniert die informationsverarbeitenden und effektorischen Funktionen. Auf diese Weise wird das Gleichgewicht mit der Umwelt aufrecht erhalten. In diesem Zusammenhang wird die Auswirkung einer ständigen Schallexposition für den Menschen noch immer stark unterschätzt. Dies trifft insbesondere auch auf die Wirkungen von Fluglärm zu. 16 von 93
3 Konzeption zur Erstellung des Gutachtens 3.1 Einleitung Das lärmmedizinische Gutachten beruht auf einer Vielzahl von Bedingungen, die bei der Interpretation der Aussagen zu beachten sind. Sie sind der nachfolgenden Kurzbeschreibung der Gutachtenkonzeption zu entnehmen. Wichtige Begriffe sind in dem Text gekennzeichnet (unterstrichen) und werden im Anschluß für den interessierten Leser kurz erläutert bzw. definiert. 3.2 Kurzbeschreibung Aufgabe des Gutachtens ist die lärmmedizinische Bewertung der Fluglärmsituation und der Boden-/Fluglärmsituation in der Umgebung des Flughafen Hamburg. Bewertet wurden sowohl die Fluglärmimmissionen als auch die Bodenlärmimmissionen in einem festgelegten Untersuchungsgebiet. Als kleinste Untersuchungseinheiten wurden die „statistischen Einheiten“ herangezogen und in ihnen die Altersstruktur der Bevölkerung berückrichtig. Ebenso wurden besonders schutzbedürftige Einrichtungen erfaßt. Neben der Ausgangssituation (1995) wurden drei Ausbaustufen und drei Nullvarianten (vgl. Kap. 1 ) begutachtet. Die Bewertung erfolgte auf der Grundlage lärmphysikalischer Prognosen, bei denen die 6 verkehrsreichsten Monate des Jahres zugrunde gelegt wurden (lärmphysikalische Gutachten). Ergebnisse der lärmphysikalischen Gutachten sind Konturen gleicher Schallast (Isokonturen). Die Konturen wurden in Schritten von 5 dB(A) errechnet. Die Gebiete zwischen zwei benachbarten Isokonturen wurde im lärmmedizinischen Gutachten zu einer Belastungsklasse zusammengefaßt und die Schallbelastung dieser Gebiete mit lärmmedizinischen Zumutbarkeitsgrenzen verglichen. Diese Zumutbarkeitsgrenzen wurden durch eine umfangreiche Literaturauswertung erarbeitet (vgl. Anhang B, Kap. 4, 5, 6)) und geben den aktuellen Stand der Lärmwirkungsforschung wieder. Sie wurden soweit möglich fluglärmbezogen definiert und auf einen präventivmedizinischen Gesundheitsschutz abgestellt (vgl. Kap. 7). Eine Überschreitung der Zumutbarkeitsgrenzen erfordert ein präventivmedizinisches Handeln. Unterhalb der Zumutbarkeitsgrenze kann mit hoher Wahrscheinlichkeit eine fluglärmbedingte Gesundheitsgefährdung ausgeschlossen werden. Im Gutachten wird davon ausgegangen, daß sich zwischen der Zumutbarkeitsgrenze und dem Beginn der Unzumutbarkeit ein Kontinuum immer stärker werdender gesundheitsgefährdender Beanspruchung erstreckt, für die je nach konkreter Situation und Schutzbedarf Interessen eine Güterabwägung vorzunehmen ist. Die Ursache der gesundheitsgefährdenden Wirkung von Lärm ist neben mechanischen Schäden im Innenohr eine gestörte Regulation (vgl. Anhang A, Kap. 2) die mittelbar durch Belästigung oder unmittelbar durch vegetativ hormonelle Beanspruchung hervorgerufen werden kann. Sowohl bei der vegetativ-hormonellen Beanspruchung als auch bei der Belästigung und der 17 von 93
Hauptteil Kapitel 3: Konzeption Hörminderung sind zwei verschiedene „Störungsmechanismen“ zu beachten. Bei der vegetativ- hormonellen Beanspruchung kann vereinfachend von „akuter Fehlregulation“ bzw. „Überbeanspruchung (auch Überaktivierung)“ gesprochen werden, bei der Belästigung von „akuter Störung“ bzw. von „Lästigkeit“ und bei der Hörminderung von „mechanischer Schädigung“ bzw. von „Unterversorgung“. Der äquivalente Dauerschallpegel (LAeg) determiniert die Überbeanspruchung, die Lästigkeit und die Unterversorgung des Innenohres; der Maximalpegel (LAmax) die akute Fehlregulation, die akute Störung und die mechanische Schädigung des Innenohres. Demzufolge wurden im vorliegenden Gutachten eigene Zumutbarkeitsgrenzen für die vegetativ-hormonelle Beanspruchung für die Schlafstörung, für die Belästigung und für die Hörverluste erarbeitet, die sowohl für den äquivalenten Dauerschallpegel, als auch für den Maximalpegel angegeben werden (vgl. Kap. 4, 5) Eine häufige Überschreitung der Zumutbarkeitsgrenze für Maximalpegel birgt eine Gesundheitsgefährdung in sich, die seltenen Überschreitungen nicht zugeordnet werden kann. Die Anzahl von unbedenklichen Überschreitungen werden im Gutachten als seltene Ereignisse bezeichnet. Sie werden bei der lärmmedizinischen Bewertung der maximalen Immissionspegel (Maximalpegel) berücksichtigt. Die Störung der Regulation ist zusätzlich von dem Zeitpunkt der Lärmeinwirkung abhängig, da die menschliche Aktivität und Sensibilität einem 24 Stunden Rhythmus folgt (zirkadianer Rhythmus). Bei einer präventivmedizinischen Bewertung muß auch diese Abhängigkeit berücksichtigt werden. So werden im Gutachten 6 Zeitbereiche unterschieden, die es ermöglichen die 24 Stunden-Rhythmik stufenweise zu berücksichtigen (vgl. Kap. 5). Neben den vegetativ-hormonellen Reaktionen unterliegt auch die Belästigung dieser 24 Stundenperiodik. Eine lärmmedizinische Bewertung der Schallast kann in den einzelnen Zeitbereichen nur dann sinnvoll vorgenommen werden, wenn das Verhältnis zwischen Außennutzung und Innennutzung vorgegeben wird. Im Gutachten wird von einer erheblichen Nutzung von Außenflächen (6:00-12:30 Uhr; 13:30-19:00 Uhr), einer Mischnutzung (19:00-22:00 Uhr) und einer überwiegenden Nutzung von Innenflächen (22-6 Uhr) ausgegangen. Bei der Nutzung von Innenflächen muß die Luftqualität und die Raumtemperatur berücksichtigt werden. Beides ist durch eine Spaltlüftung gewährleistet. Für längere Zeitbereiche, mit einer überwiegenden Nutzung von Innenflächen, wird daher der Innenpegel durch Abzug von 15 dB(A) (Spaltlüftung) vom Außenpegel errechnet und mit den Zumutbarkeitswerten verglichen. Für jeden Zeitbereich und jede statistische Einheit wurde unter Beachtung der Zumutbarkeitsgrenzen und der Nutzungsart der Grad_der Gesundheitsgefährdung und der notwendige Handlungsbedarf bestimmt Die Bewertung der 24 Stunden-Beanspruchung erfolgt in Form von Tabellen. Für jede statistische Einheit wird ein „Bewertungsprofil für Erwachsene (15 65 Jahre)“ angegeben und zu einer 24h-Bewertung zusammengefaßt. Die zeitliche Entwicklung des präventivmedizinischen Handlungsbedarfs von der Ausgangssituation bis zur Ausbaustufe 3 wird mittels eines „Handlungsbedarfsindex“ analysiert und bewertet. Auf diese Analyse stützt sich auch die lärmmedizinischen Gesamtaussage, die zu den geplanten Baumaßnahmen Stellung nimmt. et ep 11 18 von 93
Hauptteil Kapitel 3: Konzeption In diesem Zusammenhang werden Empfehlungen aus lärmmedizinischer Sicht abgegeben. 3.3 Erläuterungen und Definitionen Akute Fehlregulation: Unter akuter Fehlregulation wird von uns eine zeitweilige (zeitbegrenzte) reversible inadäquate Veränderung der biologischen Homöostase verstanden. Sie ist meßbar anhand von Parametren biologischer Funktionen. Akute Störung: Unter akuter Störung wird von uns eine zeitweilige (zeitbegrenzte) reversible Veränderung der psychobiologischer Regulationen verstanden, die durch einen Störfaktor (Stressor) hervorgerufen wird. Dieser Zustand ist durch eine zeitweilige Desynchronisation zwischen Funktionsabläufen informationsverarbeitender Prozesse und der Homöostase des Individuums gekennzeichnet. Außennutzung: Unter Außennutzung ist der Aufenthalt von Personen im Freien, z.B. in Parks oder auf Balkonen zu verstehen. Beanspruchung: Die Begriffe Beanspruchung und Belastung gehören eng zusammen. Sie sind an die „Theorie des Balken angelehnt“. Beim Balken wird zwischen der Last auf dem Balken (Belastung) und dem Durchbiegen des Balken aufgrund der Last (Beanspruchung) unterschieden. Die Beanspruchung des Balkens ist nicht nur von der Last abhängig, sonder ebenfalls von der „Festigkeit“ des Balkens. Bei der Lärmwirkung wird unter diesem Gesichtspunkt zwischen der Schallast (Belastung) und der Beanspruchung (Streß) des Menschen aufgrund der Schallast unterschieden. Belästigung: Unter Belästigung verstehen wir die Wirkung, z.B. Lärmwirkung die Lästigkeit hervorruft. Belastung: Die Begriffe Belastung und Beanspruchung gehören zusammen. Ihre Bedeutung ist unter dem Begriff Beanspruchung erläutert. Besonders schutzbedürftige Einrichtungen: Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Definition von Zumutbarkeitsgrenzen ist die Frage, ob die durchschnittliche Bevölkerung oder bestimmte Personengruppen als „Maßstab“ herangezogen werden sollen. Es ist bekannt, das Kinder, Schwangere und alte Menschen besonders stark durch Lärm beeinträchtigt werden. Eine weitere besonders schutzbedürftige Gruppe sind Kranke. Einrichtungen die überwiegend von diesen besonders schutzbedürftigen Gruppen genutzt werden, nennen wir besonders schutzbedürftige Einrichtungen. Bewertungsprofil: Mit dem Begriff Bewertungsprofil wird die präventivmedizinische Bewertung einer statistischen Einheit in allen 6 Zeitbereichen bezeichnet. 19 von 93
Hauptteil Kapitel 3: Konzeption Dauerschallpegel: Im Gutachten wird mit dem Begriff (äquivalenter) Dauerschallpegel der energieäquivalente Dauerschallpegel nach DIN 45641 (Halbierungsparameter q =3) bezeichnet. Er ist zusammen mit der Dauer des Zeitintervalls, für das er gilt, ein Maß für die „Schalldosis“- also gewissermaßen für die einwirkende „Menge an Lärm“. Der äquivalente Dauerschallpegel ist ein zeitlicher Mittelwert. In seine Höhe gehen Stärke und Dauer jedes Schallereignisses ein. Diese Aussage gilt nicht für den äquivalenten Dauerschallpegel nach dem Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm (q=4). (vgl. Anhang B, Kap. 1) | Fluglärmbezug (Anlagenbezug): Dieser Ansatz hat sich bewährt, weil er klar und schnell erkennbar auf dem Verursacherprinzip aufbaut. Der Anlagenbezug hat einen weiteren Vorteil. Jede Schallquelle hat ihre eigene Charakteristik, die nicht allein durch den Schalldruckpegel zu erfassen ist. Nur bei einem anlagenbezogenen Ansatz ist es möglich die Besonderheit einer Lärmquelle durch eigene Zumutbarkeitsgrenzen zu berücksichtigen. Gestörte Regulation: Wir verstehen unter einer gestörten Regulation, eine durch exogene (auch endogene) Reize auftretende zeitweilige oder permanente Veränderung der Regulation psychobiologischer Prozesse, z.B. die Veränderung des vegetativ-hormonellen Funktionssystems. Handlungsbedarfsindex: Die lärmmedizinische Bewertung erfolgt für jede statistische Einheit sowohl für die einzelnen Zeitbereiche als auch für die Gesamtbelastung (24h) anhand der Gesundheitsgefährdung und dem gebotenen präventivmedizinischen Handlungsbedarf (vgl. Kap. 7). Daraus wird für jedes Szenario ein „globaler“ Handlungsbedarf berechnet. Wird der globale Handlungsbedarf auf die Ausgangssituation normiert, ergibt sich der Handlungsbedarfsindex (vgl. Kap. 7.4.1). Hörminderung: Durch andauernde oder häufige Schalleinwirkung hoher Intensität bildet sich eine nicht mehr reversible Verschiebung der Hörschwelle aus. Die permanente Hörschwellenverschiebung wird als Hörminderung bezeichnet. Innenutzung Hierunter verstehen wir den Aufenthalt von Personen in Innenräumen, z.B. Wohnungen. Lärmphysikalische Gutachten Die der lärmmedizinischen Bewertung zugrundeliegenden Konturen gleicher Schallast wurden über physikalische Ausbreitungsgesetze aus der prognostizierten Häufigkeit von Schallereignissen (Flugbewegungen, Bodenereignissen) und den zugehörigen Lärmquellenorten berechnet. Die Berechnungen sind Gegenstand der lärmphysikalischen Gutachten. Lästigkeit: Unter Lästigkeit verstehen wir das subjektive Erleben negativer Reize aus dem äußeren und inneren Milieu des Menschen. Lästigkeit kann sich z.B. durch Angst, Bedrohung, Ärger, Ungewißheit, eingeschränktes Freiheitserleben, Erregbarkeit und Wehrlosigkeit ausdrücken. nn 20 von 93
Hauptteil Kapitel 3: Konzeption Maximalpegel: Der Maximalpegel ist der Pegel des höchsten Effektivwertes des A-bewerteten Schalldrucks. Er hängt bei der Messung von der verwendeten Zeitbewertung ab. Für Fluglärm wird die Zeitbewertung „Slow“ eingesetzt. (vgl. Anhang B, Kap. 1) Mechanische Schäden im Innenohr: Außer dem sich allmählich aufbauenden lärmbedingten Hörverlust kann auch eine kurzfristige Überlastung des Gehörs durch extrem hohe Schallintensitäten zu einem Hörverlust führen. Es ist eine mechanische Zerstörung der Haarzellen (Cilien) im Corti-Organ zu beobachten. Präventivmedizinischer Gesundheitsschutz: Das heutige Wissen reicht noch bei weitem nicht aus , um eine eindeutige medizinisch (pathologisch) Bewertung für alle Lärmsituationen durchzuführen. Dabei ist es unumgänglich, daß aufgrund der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse Annahmen gemacht werden, um zu eindeutigen Zumutbarkeitsgrenzen zu kommen. Dies ist unter präventivmedizinischem Gesichtspunkt eine legitime Vorgehensweise. Es ist nicht sinnvoll, daß politische und administrative Institutionen so lange warten, bis eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen und erst dann notwendige Lärmschutzmaßnahmen einleiten. Dieser Sachverhalt wird in dem Begriff präventivmedizinischer Gesundheitsschutz zusammengefaßt. Schallast: Schallast oder Belastungsschall ist nach DIN 1320 das Ausmaß des Schalles, der auf den Menschen einwirkt (oder einwirken kann), ausgedrückt in physikalischen Größen. Seltene Ereignisse: Das seltene Ereignis wird von uns an der Kortisolfreisetzung orientiert. Führt ein Lärmereignis zu einer Kortisolfreisetzung, so wird der Ausgangswert nach 1 bis 2 Stunden wieder erreicht. Sind in dieser Zeit weitere laute Lärmereignisse zu verzeichnen, bauen die weiteren Kortisolausschüttungen auf bereits erhöhten Kortisolwerte auf. Diese Situation sollte Vermieden werden. Das ist der Fall, wenn zwischen den Lärmereignissen mindestens eine Zeitspanne von 1,5 Stunden vergeht. Spaltlüftung Unter dem Begriff Spaltlüftung ist ein gekipptes Fenster zu verstehen. In diesem Fall ist die Schalldäimmung unabhängig von der Ausführung (Schallschutzklasse) des Fensters und nur von der Größe des Öffnungsspaltes abhängig. VDI 2719 gibt als Richtwert ein bewertetes Schalldämmaß von 15 dB(A) an. Eine Spaltlüftung ist besonders im Hinblick auf die Schlafhygiene wichtig, da in Schlafräumen eine gute Luftqualität herrschen sollte. Überbeanspruchung: Unter Überbeanspruchung verstehen wir dir durch Belastung ausgelösten Veränderungen verschiedener psychobiologischer Funktionen, die bis zur Adaptationsgrenze des Individuums oder dessen Funktionssysteme gehen kann. Untersuchungsgebiet: Das Untersuchungsgebiet wurde durch die Isokontur der 3. Ausbaustufe im Zeitbereich 3 von 60 dB(A) (L Aeg) festgelegt. 21 von 93
Hauptteil Kapitel 3: Konzeption Unterversorgung: Infolge einer Beschallung mit genügend hoher Intersität liegt im Innenohr des Menschen ein gesteigerter, schwer zu kompensierender Stoffwechsel vor. Führen eine zu hohe Schallintensität oder eine zu lange Einwirkdauer zu einem unphysiologischen Enzymverbrauch, treten Ermüdungserscheinungen an den Haarzellen auf, die zeitweilige oder bleibende Schäden hinterlassen können. Die Situation kann als Unterversorgung charkterisiert werden. Vegetativ-hormonelle Beanspruchung: Unter der Beanspruchung des vegetativ-hormonellen Systems werden durch Schallreize ausgelöste Veränderungen verschiedener vom Hypothalamus gesteuerter vegetativ-hormoneller Funktionen zusammengefaßt (vgl. Anhang A). Verkehrsreichste Monate des Jahres Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Verkehrslärm setzen eine Lärmexposition über einen langen Zeitraum voraus. Im Hinblick auf den präventivmedizinischen Gesundheitschutz ist es sinnvoll die verkehrsreichsten 6 Monate eines Flughafens als lärmmedizinische Bewertungsgrundlage heranzuziehen. Diese findet sich z.B. auch im Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm. Zeitbereiche: Auf der Grundlage von zirkadianen bedingten Aktivierungs- und Sensibilitätsverläufen festgelegte Tages- und Nachtabschnitte (vgl. Kap. 5 und Anhang A). Zumutbarkeitsgrenzen Eine Aufgabe der Lärmwirkungsforschung ist es, daß Ausmaß einer möglichen Beeinträchtigung für unterschiedliche Lärmexpositionen zu prognostizieren. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellt die Ermittlung von Reaktionsschwellen dar, unterhalb derer keine Lärmwirkung zu beobachten ist. Auf der anderen Seite können Lärmbereiche angegeben werden, in denen das Risiko, einen gesundheitlichen Schaden zu nehmen, sehr wahrscheinlich ist. Zwischen die (nominale) Schwelle und den Gefährdungsbereich muß eine Grenze der Zumutbarkeit gelegt werden, die von dem Gefahrdungspotential der Beeinträchtigung abhängt. oe Schwellen und Zumutbarkeitsgrenzen für vegetativ hormonelle Lärmwirkungen Das Gefährdungspotential der vegetativ hormonellen Lärmwirkung muß als hoch eingeschätzt werden. So zeigen epidemiologische Untersuchungen (vgl Anhang A und B) einen engen Zusammenhang zwischen vegetativ hormonellen Reaktionen und einer Gesundheits- beeinträchtigung. Die Grenze der Zumutbarkeit wird für vegetativ hormonelle Reaktionen mit der Schwelle gleichgesetzt. oe Schwellen und Zumutbarkeitsgrenzen für psychologische und soziologische Lärmwirkungen Die Beziehung zwischen der Reizgröße Schalldruckpegel (z.B. L Aeq,24h oder Lqn) und der kumulierten Häufigkeit der Belästigungsreaktion, hat häufig die Form einer logistischen Funktion. Das bedeutet, daß bereits bei sehr geringen Intensitäten erste Reaktionen zu beobachten sind und eine Schwelle nach dem „alles oder nichts Gesetz“ nicht zu erkennen ist. Der Anteil der Betroffenen ist bei sehr geringen Intensitäten annähernd konstant und nimmt 22 von 93
Hauptteil Kapitel 3: Konzeption dann schneller werdend zu. Nach diesem Kurvenverlauf ist ein absoluter Schutz aller Betroffenen nur unter Vermeidung von jeglichen Geräuschen möglich. Dies ist nicht realisierbar und es sind Kompromisse erforderlich. Als Zumutbarkeitsgrenze für Belästigungsreaktionen durch Fluglärm wird in diesem Gutachten der Schallpegel angesehen, bei dem sich maximal 25% stark belästigt (highly annoyed) fühlen. Diese Grenze der Zumutbarkeit findet sich auch in älteren Arbeiten. [(Grandjean et al. 1969, Tracor Inc. 1972) zitiert nach Rohrmann et al. 1978]. Nach Tracor Inc. wird der Fluglärm dann ein ernstes Problem, wenn mehr als 25% highly annoyed sind. oe Schwellen und Zumutbarkeitsgrenzen für Hörminderungen Die wesentliche soziale Folge eines Hörschadens besteht in der Unfähigkeit unter normalen Bedingungen Sprache zu verstehen. Da Sprache das übliche Mittel der Kommunikation zwischen Menschen darstellt, muß ein vermindertes Hörvermögen als starkes soziales Handikap betrachtet werden. Im Falle einer Kombination von altersbedingtem Hörverlust und geräuschbedingtem Hörverlust, ist die Abnahme der Sprachverständlichkeit ein lang andauernder Prozeß, der sich über Jahre erstreckst.. Bereits kleine Hörminderungen zeigen negative Effekte auf die Sprachverständlichkeit unter normalen Bedingungen. Aus diesem Grund ist jedes zusätzliche Risiko einer geräuschbedingten Hörminderung zu vermeiden. Die angegebenen Schwellenwerte sind gleichzeitig als Zumutbarkeitsgrenzen anzusehen. 24h Bewertung: Die Bewertung in den einzelnen Zeitbereichen gibt nicht die Gesamtbeanspruchung (24h) wieder. Insbesondere muß eine Überschreitung in mehr als zwei Zeitbereichen als erhöhte Beanspruchung gewertet werden, da dann entweder in den gesamten Abend- und Nachtzeiten eine unzumutbare Beanspruchung existiert, oder aber eine unzumutbare Tages- und Nachtbeanspruchung (Abendbeanspruchung) vorliegt. Dies wird in der 24h-Bewertung berücksichtigt. Sie ist für jede statistische Einheit im Kap. 7 verzeichnet. 24 Stunden Rhythmus Alle psychobiologischen Funktionen eines Menschen unterliegen einem periodischen Verlauf, dessen Periodendauer nahezu 24 Stunden beträgt. Aus diesem Grund wird dieser Rhythmus als zirkadianer Rhythmus bezeichnet (zirka = etwa; dian/dies = Tag). Aufgrund des zirkadianen Rhythmus rufen gleiche Belastungen zu unterschiedlichen Tageszeiten unterschiedlich intensive Reaktionen hervor (Medikamente, toxische Stoffe, Lärm usw.). Im zirkadianen Rhythmus liegt die Begründung für die im Gutachten eingeführten Zeitbereiche (vgl. Kap. 6). a ————————————————————————————————— 23 von 93