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Anhang A Kapitel 2: Akustische Wahrnehmung
—— [> Aapilelz: Akustische Wahrnehmung

Die Abhängigkeit vom Schalldruckpegel läßt sich qualitativ angeben und ist in der folgenden
Abbildung dargestellt.

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Bei gleicher Frequenzzusammensetzung

Aktivierungsniveau

 

Schalldruckpegel mi

Abb. 2.4: Qualitativer Verlauf des Aktivierungsniveaus in Abhängigkeit vom Schalldruckpegel für
akustische Reize der gleichen Frequenzzusammensetzung (Quelle: Maschke 1995)

Die Höhe des Aktivierungsniveaus steigt mit dem Schalldruckpegel und strebt in einen
”Sättigungsbereich”. Der Kurvenverlauf entspricht dem einer einfachen logistischen Funktion.
Wird der asymptotische Endwert einer logistischen Funktion als "Kapazität des Systems” in-
terpretiert, so gibt der Kurvenverlauf die jeweils erreichte Ausnutzung dieser Kapazität
wieder. Die Differenz zwischen der ”erreichten Ausnutzung” und der Endkapazität kann als
"verfügbare Kapazität” betrachtet werden, Eine logistische Funktion entsteht, sofern für die
Steigung der abhängigen Variable eine lineare Abhängigkeit von der "verfügbaren Kapazität”
besteht. Die Zunahme der Aktivierung ist demzufolge sowohl von der Reizdifferenz, als auch
von der jeweils noch verfügbaren Aktivierungskapazität abhängig.

Über der Frequenz ist ein leicht U-förmiger Verlauf des Aktivierungsniveaus zu verzeichnen.
Bei gleichem Lautstärkepegel ist das Aktivierungsniveau bei tiefen und insbesondere bei hohen
Tönen gegenüber Tönen mit mittleren Frequenzen erhöht. Daraus leitet sich ab, daß für
Warnsignale das Maximum der Schallenergie bei höheren Frequenzen liegt. Der qualitative
Zusammenhang ist in der Abbildung (Abb. 2.5)dargestellt.

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Bei gleichem Lautstärkepegel

Aktivierungsniveau

 

tiefe Töne hohe Töne
Frequenz =——->

Abb. 2.5: Qualitativer Verlauf des Aktivierungsniveaus in Abhängigkeit von der Frequenz für
Töne mit gleichem Lautstärkepegel (Quelle: Schönpflug 1962)

Zusätzlich ist eine Abhängigkeit von der zeitlichen Struktur des Schalls zu beobachten.
Werden Personen z.B. mit verschiedenen Arten von Musik (Schlager, Operettenmusik, Jazz,
—— ee ee ee ee een

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21

Anhang A Kapitel 2: Akustische Wahrnehmung

klassische Musik) bei gleichem Mittelungspegel beschallt, so zeigt sich, daß bei Jazzmusik die
stärkste Aktivierung beobachtet werden kann. Die Jazzmusik verdankt diese Spitzenstellung
in Europa dem zeitlichen Verlauf der Reizung.

Diese Beobachtung basiert auf folgender Grundregel:

Das Aktivierungsniveau steigt um so höher, je häufiger sich der Schalldruckpegel ändert, je
größer die Anderungsgeschwindigkeit ist und je stärker sich die Frequenzzusammensetzung
mit der Zeit ändert.

Aber auch der Informationsgehalt des Schallereignisses darf nicht außer Acht gelassen werden.
Nahezu jede Wahrnehmung besitzt einen Informationsgehalt, der in den Steuerungs- und
Aktivierungsprozeß einbezogen wird.

Auch hier kann eine Grundregel formuliert werden:

Das Aktivierungsniveau nimmt grundsätzlich mit dem Informationsgehalt des akustischen
Reizes zu.

Je höher die Anforderungen an den Organismus sind, die aufgrund des Schallereignisses vom
Individuum erwartet werden, um so höher ist auch die Aktivierung.

2.2.2 Aktivierung und Emotionen

Emotionen sind durch die Persönlichkeitsstruktur bestimmt. Es sind subjektive
Reaktionsweisen des Menschen auf Reize aus dem äußeren und inneren Milieu, die psychisch
mit dem Erleben und physiologisch mit einer Veränderungen von vegetativ-hormonellen
Funktionen einhergehen.

Auch für die Emotionen läßt sich eine Grundregel angeben:
Emotionen enstehen durch Diskrepanzen zwischen inneren und äußeren Abbildern.

Dieser Zustand wird durch eine zeitweilige Desynchronisation (negative Emotionen) oder eine
äußerst stabile Synchronisation (positive Emotionen) zwischen Funktionsabläufen
informationsverarbeitender Prozesse und der Homöostase des Individuums hervorgerufen.

Während die Wahrnehmung den Reiz widerspiegelt, reflektieren die Emotionen den Zustand
des Subjekts und dessen Einstellung zum Reiz. Die Beziehung zwischen Aktivierung und
Emotionen ist darin zu sehen, daß das Aktivierungsniveau und die Intensität der Emotionen
gewöhnlich stark miteinander korreliert sind. [u.a. Ax 1953, Schachter 1971]

Emotionen haben neben einer quantitativen auch eine qualitative Komponente. Letztere zeich-
net sich durch ihren polaren Charakter aus, durch Anspannung und Entspannung sowie
Erregung und Hemmung. Das strukturelle Substrat der Emotionen ist das limbische System, in
dem sich auch wichtige Schaltstellen für das Gedächtnis befinden.

2.2.3 Aktivierung und Leistung

Leistung ist ein Ausdruck von Verlaufs- und Ergebnisbesonderheiten materieller und geistiger
Tätigkeitsprozesse. Die Leistung steht in enger Beziehung zur Aktivierung aber auch zur
Motivation und zu Emotionen. Die Auswirkung einer Aktivierung läßt sich besonders gut in
Zusammenhang mit der Leistung diskutieren. Die Abhängigkeit der Leistung von der
Motivation und von den Emotionen wird im folgenden Abschnitt nicht näher betrachtet.

Nach den bisherigen Ausführungen liegt die folgende Erwartung nahe:

 

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Je höher die Aktivierung ist, d.h. je mehr Energie dem Körper zur Verfügung steht, desto mehr
kann geleistet werden.

Bei dieser im Grundsatz richtigen These muß beachtet werden, daß die mobilisierte Energie
ungerichtet ist und zum zielgerichteten Einsatz einer Steuerung bedarf. Je mehr Energie zur
Verfügung steht, desto schwieriger ist es, sie zielgerichtet einzusetzen, d.h. zu kontrollieren.
Mit steigender Aktivierung treten also zwei Tendenzen auf, welche die Leistung gegenläufig
beeinflussen:

Die mobilisierte Energie kommt einerseits der Schnelligkeit und Nachhaltigkeit einer Leistung
zugute, andererseits stellt sie erhöhte Anforderungen an die Steuerung.

Ein Beispiel:

Ein Sportler sei noch wenig aktiviert. Er wird in diesem Zustand weniger leisten als im
Zustand höherer Aktivierung. Er wird sensorisch und motorisch relativ langsam reagieren.
Erreicht er einen Zustand höherer Aktivierung, z.B. durch die Anfeuerungsrufe der Zuschauer,
so wird er schneller reagieren, mit einer Geschwindigkeit, die seiner Steuerung noch keine
Schwierigkeiten bereitet. Ist der Sportler aber zu hoch aktiviert, wir können diesen Zustand
auch als erregt bezeichnen, so wird er zwar eine besonders schnelle Reaktion zeigen, seine
Handlungen werden aber im Detail zu unkontrolliert sein, so daß seine Leistung gegenüber dem
Zustand mittlerer Aktivierung wieder abfällt.

Auf diese Weise erhalten wir den vielfach publizierten Zusammenhang zwischen Leistung und
Aktivierung (Streß), wie er in der folgenden Abbildung verzeichnet ist.

Leistung

Aktivierungsniveau — u

Abb. 2.6: Qualitativer Zusammenhang zwischen Leistung und Aktivierung (Quelle: Schönpflug 1962)

Der qualitative Verlauf der Leistung in Abhängigkeit vom Aktivierungsniveau kann als
Zusammenspiel einer leistungsfördernden Komponente und einer leistungsmindernden
Komponente der Aktivierung interpretiert werden. Die leistungsfördernde Komponente beruht
auf der zunehmenden Energiemobilisierung, die leistungsmindernde Komponente beinhaltet die
Steuerungsschwierigkeiten, die sich bei der Kontrolle der mobilisierten Energie ergeben.

a
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Kapitel 2: Akustische Wahrnehmung

 

Anhang A
' leistungsfördemde Kompg
©
=
©
u
o
u
[e)]

c
>
©
Oo
‚E
=
\ Aktivierungsniveau ——

Abb. 2.7: Qualitative Darstellung der Leistungskomponenten in Abhängigkeit vom Aktivierungsniveau

Das Aktivierungsniveau kann anhand der erbrachten Leistung in drei Bereiche eingeteilt wer-

den, die mit den Begriffen "geringe Aktivierung”, ”gute Aktivierung” und ”Überaktivierung”

charakterisiert werden können.

—>

 

Leistung
Oo
c
>
a
8
oO
wi
oo
E
2
©
Oo
£
=
\ Aktivierungsniveau =

Abb. 2.8: Qualitative Darstellung der Aktivierungsbereiche "geringe Aktivierung”, "gute Aktivierung”
und ”Überaktivierung”

Im Bereich der ”geringen Aktivierung” steigt die Leistung monoton mit zunehmender
Aktivierung. Der Tätigkeit kommt die Energiemobilisierung zugute. Die Steuerung bereitet
keine Schwierigkeiten.

Im Bereich der ”guten Aktivierung” entspricht das erreichte Aktivierungniveau den
Anforderungen der Tätigkeit. Es ist zu beachten, daß der Leistung im allgemeinen durch den
Arbeitsablauf Grenzen gesetzt sind. Die Aktivierungsunterschiede in diesem Bereich bleiben
daher ohne Auswirkung, da nicht schneller gearbeitet werden kann als es der Arbeitsablauf

zuläßt.

 

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Im Bereich der ”Überaktivierung” nimmt die Leistung aufgrund erhöhter Steuerungs-
anforderung mit zunehmender Aktivierung deutlich ab. Die Arbeitsschritte werden zunehmend
unkontrolliert und überhastet.

2.2.4 Erwünschte und unerwünschte Aktivierung

Es liegt nahe, daß es eine Aufgabe von Grenzwerten sein sollte, die jeweilige Schallexposition
so zu begrenzen, daß sich das Aktivierungsniveau der Hörer mehrheitlich im Bereich der ”guten
Aktivierung” befindet und gleichzeitig positive Emotionen erzeugt werden.

Im Bereich der Überaktivierung, in dem die leistungsmindernde Steuerungskomponente
überwiegt, werden negative Emotionen hervorgerufen und die Wirkung des Schalls wird zur
Lärmwirkung.

Bevor Grenzwerte für die einzelnen Lärmwirkungen erarbeitet werden, muß die qualitative
Aktivierungs-Leistungsbeziehung differenzierter betrachtet werden. Eine wünschenswerte
quantitative Angabe gestaltet sich jedoch außerordentlich schwierig, da die optimale
Aktivierung bei verschiedenen Personen und verschiedenen Tätigkeiten mit unterschiedlichen
Aktivierungsniveaus verbunden ist. (z.B. [Sust 1989])

Das Stempeln von Briefmarken verlangt weniger Steuerung als das Führen eines
Kraftfahrzeuges. Im ersten Fall wird eine Störung der Steuerung erst bei höherer Aktivierung
auftreten als im zweiten Fall.

schwierigere Aufgabe leichtere Aufgabe

Leistung

 

Aktivierungsniveau ———>

Abb. 2.9: Qualitative Abhängigkeit der Leistung vom Aktivierungsniveau bei unterschiedlich
schwierigen Aufgaben (Quelle: Schönpflug 1964)

Es kann folgender Grundsatz festgehalten werden:

Je differenzierter, bzw. schwieriger eine Tätigkeit ist, desto niedriger liegt der Bereich opti-
maler Aktivierung.

An dieser Stelle sollen die bisherigen Ausführungen zur Aktivierung zusammengefaßt werden.

Durch ein Schallereignis kann das vorherrschende Aktivierungsniveau erhöht werden und damit
jene Zustände hervorgerufen werden, die mit guter Aktivierung bzw. Überaktivierung
bezeichnet wurden. Welches Ausmaß der Aktivierung im Einzelfall zustande kommt, hängt
nicht nur vom Schallereignis ab, sondern ebenfalls vom Aktivierungsniveau, welches ohne
Einfluß der Reizung bereits vorhanden war. Für die resultierende Leistung muß ferner die
Tätigkeit bzw. die tätigkeitsstrukturelle Anforderung berücksichtigt werden. (z.B. [Schönpflug
1979, Battmann 1986]) Deshalb kann das gleiche Schallereignis dem einen zur optimalen

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Leistungsbereitschaft verhelfen, den anderen in einen Zustand allzu hoher Aktiviertheit
versetzen.

2.2.5 Unerwünschte Aktivierung und Regulation

Was geschieht, wenn eine Person bemerkt, daß ihr Aktivierungsniveau der momentanen
Tätigkeit nicht angemessen ist?

Die Antwort läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Sobald das Aktivierungsniveau die optimale Höhe zu überschreiten droht, versucht das
Individuum gegenzuregeln.

Regulationstheoretisch bedeutet dies, daß in der Regulation eine Verkürzung der
Periodenlängen ausgelöst wird, um mehr Energie bereitzustellen [Hecht 1993].

Dieser Regelungsprozeß kann eine Erniedrigung des Aktivierungsniveaus bewirken oder auch
eine qualitativ höhere Stufe der Steuerung hervorrufen. In beiden Fällen muß der Organismus
eine zusätzliche Belastung bewältigen, die nur kurzfristig erbracht werden kann und ihren
”Tribut” fordert. Der Regulierungsfähigkeit des Organismus sind Grenzen gesetzt: Es gibt hohe
Pegelbereiche, in denen eine Gegenregulation nicht mehr möglich ist.

Zusätzlich ist zu beachten, daß die Aktivierung auch die Tätigkeit beeinflußt. So hat sich schon
manch einer des nachts entschlossen, einen Brief zu schreiben, weil Lärm ihn am Schlafen hin-
derte, Ebenso kennt jeder die Situation, eine geistige Tätigkeit abzubrechen, weil Lärm das
Aktivierungsniveau derart erhöht hat, daß eine sinnvolle geistige Tätigkeit nicht mehr möglich
ist.

Auch in diesem Fall gilt wieder, daß es nicht nur von den physikalischen Komponenten des

Schallereignisses abhängt, ob eine Aktivierung unerwünscht ist, sondern u.a. von den Plänen,
den Zielen und der Regulationsfähigkeit der schallexponierten Person.

2.3 Lärm und Lebensqualität

Abschließend sei noch angemerkt, daß die Regulation das Grundprinzip des Lebens ist. Sie
gewährleistet das Gleichgewicht (Homöostase) des inneren Milieus eines Lebewesens und
koordiniert die informationsverarbeitenden und effektorischen Funktionen. Auf diese Weise
wird das Gleichgewicht mit der Umwelt aufrecht erhalten. In diesem Zusammenhang wird die
Auswirkung einer ständigen Schallexposition für den Menschen noch immer stark
unterschätzt. Dies trifft insbesondere auf die Wirkungen von Verkehrslärm zu. Die an den
Hauptverkehrsadern stets präsente Lärmquelle Verkehr ist als eine Gesundheitsgefahr und eine
Einschränkung der Lebensqualität zu bewerten.

2.4 Betrachtung zur Beziehung zwischen Streß und Aktivierung

Betrachtet man die beschriebenen Mechanismen des Streß (hier ist nicht der
umgangssprachliche Streßbegriff gemeint) und der Aktivierung unter dem ganzheitlichen
(biopsychosoziale Einheit des Menschen) und regulationstheoretischen Aspekt, dann wird
man beim Vergleich große Ähnlichkeiten erkennen, wie es folgende Beispiele (Tab. 2.1) zeigen:

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Anhang A Kapitel 2: Akustische Wahrnehmung
——& 2721 ApIlEl 2; ZAKUSÜISCHE Walrnehmung

EEE Aktivierung
+

unspezifische Reaktion

Erhöhung der Vigilanz, Aufmerksamkeit usw.
Stimulierung der Betawellen im EEG

 
     
    

    

  
  
 
 
 

Störung des Schlafs
Leistungs-Erregungs-Beziehung
Beziehungen zu den Emotionen

Bereitstellung von biologischen Energiestoffen
im Überschuß

Tab. 2.1: Beziehung zwischen Streß und Aktivierung

En
-

Unterschiede bestehen lediglich darin, daß beim Streß die hypothalamischen-hypophysären-

Nebennieren-Regelkreise und bei der Aktivierung der ARAS-Regelkreis in den Mittelpunkt der
Betrachtung gestellt werden.

Beide Funktionen sind faktisch zwei Seiten “derselben Medaille”, d.h. zwei Regelkreissysteme
eines ganzheitlichen offenen Regulationssystems, die der Gewährleistung der Adaptation eines
Individuums an veränderte Umfeld- oder Umweltbedingungen bzw. an Anforderungen dienen.
Dabei sind beide Regelkreissysteme funktionell miteinander eng vermascht. Dieses wird allein
schon durch den Fakt bestätigt, daß das Aktivierungsniveau und die Intensität der Emotionen
gewöhnlich straff miteinander korrelieren. [Ax 1953, Schachter 1971]

Hypothese:

Streß: ein Regulationszustand für eine bestimmte Zeit mit dominierender Hauptfunktion
Energiemobilisierung;

Aktivierung: Dominierende Hauptfunktion ist die Steuerung, welche die notwendige
Voraussetzung schafft, um einen Regulationszustand zu erreichen und entsprechend der
Anforderung stabil zu halten;

Beide Funktionen bedingen sich gegenseitig.

Die bisherige konträre Gegenüberstellung dieser Funktionssysteme ist lediglich durch eine
unterschiedliche Position der Betrachtung bedingt. Der Begriff Streß hat seinen Ursprung in
einem biologischen Konzept; der Begriff Aktivierung entstand im Kreis der Psychologie. Wie
wir zeigen konnten, sind beide Regelkreissysteme für die Bewertung von Lärmwirkungen
brauchbar, wenn man unter einer ganzheitlichen Betrachtung ihre Verzahnung nicht außer Acht
läßt.

== >> äeeLTTTThT— us nn,

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27

3 Einbeziehung chronobiologischer Erkenntnisse
in das Lärmmedizinische Gutachten

3.1 Einleitung

Bisher wurde in lärmmedizinischen Gutachten für Flughäfen lediglich zwischen Tag- (6.00-
22.00 Uhr) und Nacht- (22.00-6.00 Uhr) Flügen unterschieden. Hierbei wurden weder die
Erkenntnisse der Chronobiologie noch die der Schlafforschung und Schlafmedizin
berücksichtigt. Es kann heute als Grundlagenwissen gelten:
- daß jede Körperfunktion einen tagesrhythmischen Verlauf mit Maxima und
Minima ausweist;
- daß es im Verlaufe des 24-Stundentages Empfindlichkeitsunterschiede gegen
Umwelteinflüsse, Arzneimittel u. a. gibt;
- daß der Schlaf rhythmisch in zwei Phasen, den REM-Schlaf und den NONREM-
Schlaf gegliedert ist;
- daß der REM-Schlaf vorwiegend für die geistige Erholung und der NONREM-
Schlaf vorwiegend für die physische Erholung verantwortlich zeichnet;

- daß am Tage rhythmisch auftretende Zeitpunkte erhöhter Neigung zur
Schläfrigkeit beim Menschen bestehen, welche einen natürlichen Erholungs-
ıhythmus signalisieren und auch verlangen;

[Bünning 1958, Diez-Noguera 1992, Hildebrandt 1976, Jovanovic 1976, Orlock 1995, Perry
1990 Scharf 1977, Schuh 1979, Schuh 1987, Surowiak 1989, Waterhouse 1992, Wejn 1988,
Zulley 1993, Zulley 1994 u.a.]

Diese Aspekte, d. h. die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Chronobiologie und
Schlafmedizin, möchten wir in dieses Gutachten mit einbeziehen und legen nachfolgend zum
besseren Verständnis einige wesentliche Aspekte der Chronobiologie dar.

3.1.1 Allgemeines zur Regulation und zum biologischen Rhythmus

Das Leben von Mensch, Tier und Pflanze auf unserem Planeten ist so eingerichtet, daß alle
Prozesse im Wechsel von Aktivierung & Deaktivierung verlaufen.

Arbeit & Ruhe
Wachsein & Schlaf
Anspannung Entspannung
Hunger Sättigung u.a.

sind gesetzmäßige rhythmische Prozesse, durch die unser Leben auf der Grundlage von
Informations- und Stoffwechselaustausch gewährleistet wird.

 

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Anhang A Kapitel 3: Chronobiologische Erkenntnisse

Jeder lebende Organismus ist ein offenes System, welches sich mit seiner mannigfaltigen
Umwelt, wozu auch alle anderen Lebewesen gehören, zum Zwecke der Anpassung zu einem
geschlossenen, funktionierenden, dynamischen und flexiblen System zusammenfügt.

Dieses Grundprinzip des Lebens wird als Regulation bezeichnet.

Sie gewährleistet das Gleichgewicht (Homöostase) des inneren funktionellen Milieus eines
Lebewesens und koordiniert alle seine Funktionen. Somit wird das innere
Regulationsgleichgewicht und das Gleichgewicht mit der Umwelt aufrecht erhalten. Diesen
Prozeß nennt man Adaption (Anpassung). Häufig wird deshalb Gesundheit als das
dynamische Fließgleichgewicht zwischen einem Individuum und der Umwelt einschließlich des
sozialen Milieus definiert.

Alle Regulationsvorgänge der physischen und psychischen Funktionen des Menschen
verlaufen in Schwingungen, bzw. in Perioden. Die Dynamik eines geregelten Systems, ganz
gleich ob es ein psychobiologisches, ein technisches oder ein meteorologisches ist, wird durch
hythmische Vorgänge gewährleistet. Die Synchronisation von Perioden der Funktionen eines
Menschen und denen der Umwelt bewirkt Wohlbefinden, innere Harmonie und Gesundheit.
Die periodischen Abläufe der psycho-physiologischen Funktionen sind meßbar und durch
entsprechende mathematische Verfahren verifizierbar. [Balzer 1989, 1996]

Nach heutigem Erkenntnisstand kann davon ausgegangen werden, daß alle Funktionen des
Menschen auf allen Regulationsebenen und in allen Funktionssystemen periodisch verlaufen
und zwar in Periodenlängen von 10° bis 10° Sekunden. Die biologischen Rhythmen der
verschiedenen Körperfunktionen sind endogen determiniert. Exogene Zeitgeber können
Kopplungen mit diesen endogenen Rhythmen eingehen. Zeitgeber des zirkadianen
(Tages)Rhythmus sind das Hell - Dunkel Regime und soziale Verhaltensmuster der Menschen.

  
 
 
 
   
  

UMWELT OO 35
stochasfische
Zeitgeber Impulse *|
108
1

107

 

%,
Zellen N
Moleküle, Atome N

\|  Senetische Anlage

   
          

 

»cZun-ZpoR0O

    
  

Angaben In sek.

Abb. 3.1: Übersicht über die bisher in verschiedenen Regulationsebenen hochentwickelter lebender
Organismen nachgewiesenen Periodenlängen biologischer Rhythmen (Quelle: Hecht 1987)

0 nn
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Anhang A Kapitel 3: Chronobiologische Erkenntnisse

/ \oreweis EEG
- 0,18
Anm psychische Entspannung
theta-Wellen EEG, - 0,15-0,25 s
Einschlafen, oberflächlicher
bis mittlerer Schlaf
delta-Wellen EEG
-0,58
mitteltiefer bis tlefer Schlaf

Ultradianer Rhyihmus

    
   

   

 
 
   

REM-Zyklen
- 20-120 min

Zirkadlaner Rhyihmus
TU

Abb. 3.2: Vereinfachtes Schema der biologischen Zeitorganisation eines lebenden Organismus
(Quelle: Hecht 1993b)

  

 

Diese periodischen Abläufe haben sich im Laufe der Evolution durch den Einfluß kosmos- und
geophysikalischer Einflüsse herausgebildet. Der Tagesrhythmus wird durch die Erdumdrehung,
der Lunarrhythmus (z. B. Menstruationszyklen der Frau), durch die Erdumkreisung des
Mondes, der Alpharhythmus des EEG (7-12 Hz) durch die geomagnetischen Felder usw.
geprägt. [Aschoff 1955, Halberg 1953, Leonov 1969, Hildebrandt 1962, Rensing 1973 u. a.]

Da die biologischen periodischen Verläufe nicht exakt physikalischen Schwingungen
entsprechen und somit nicht der physikalischen Definition, wurden sie mit dem Adverb
"circa" (zirka) versehen, um die Ähnlichkeit der biologischen mit den physikalischen Perioden
zum Ausdruck zu bringen. So wird z. B. der Tagesrhythmus als zirkadianer, der
Wochenrhythmus als zirkaseptaner, die dem zirkadianen Rhythmus untersetzten als ultradiane
(1-20 h Periodenlängen) Rhythmen usw. bezeichnet. Der Schlaf mit seinen beiden zyklisch
auftretenden Phasen REM- und NONREM- Schlaf ist an den zirkadianen Rhythmus
gekoppelt.

Die periodischen Verläufe der Körperfunktionen erfüllen zwei Aufgaben:

1. Sicherung der Regulation eines Organismus zum Zwecke der
Adaption durch Synchronisation der periodischen Abläufe

2. Gewährleistung der zeitlichen Organisation eines Individuums
im Sinne einer inneren Uhr.

In Laienkreisen wird der Begriff "Biorhythmus" mit der von Wilhelm Fließ verbreiteten
wissenschaftlich nicht belegten Theorie von den Schnittpunkten von drei imaginären, nicht
gemessenen und nicht meßbaren Langzeitrhythmen, die einen "schlechten Tag" voraussagen
sollen, assoziiert. Computerspezialisten haben in den letzten Jahren entsprechende Programme
geschaffen, die diese "Voraussage" "wissenschaftlich" maskieren sollen. Mit dieser
Pseudowissenschaft hat die Chronobiologie und die o. a. Fakten nichts zu tun.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, wird deshalb in der Chronobiologie der Begriff
"biologische Rhythmen" verwendet.

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