Enteignung ausländischen Staatsvermögens in der Europäischen Union auf der Grundlage von Unionsrecht

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4. Exkurs: Vorgaben der Europäischen Grundrechtecharta

Sofern man unterstellt, dass eine Enteignung ausländischen Staatsvermögens im Rahmen von
Art. 215 AEUV möglich wäre, würde sich die Frage stellen, ob eine solche Enteignung mit der
Europäischen Grundrechtecharta vereinbar ist.

In Betracht käme eine Prüfung des Art. 17 GRCh. Gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 GRCh darf nieman-
dem sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den
Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine recht-
zeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Inhaltlich umfasst

Art. 17 Abs. 1 GRCh nach der Rechtsprechung des EuGH ‚vermögenswerte Rechte, aus denen sich
im Hinblick auf die Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige
Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht.“®. Ferner muss das Ei-
gentum gemäß Art. 17 Abs, 1 Satz 1GRCh „rechtmäßig“ erworben worden sein.*

Grundsätzlich bindet die Grundrechtecharta gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh die Organe, Ein-
richtungen und sonstigen Stellen der Union.“ Auf den in Art. 17 GRCh vermittelten Eigentums-
schutz können sich nach Ansicht in der Literatur zunächst einmal Privatpersonen und juristische
Personen des Privatrechts berufen.”

Im Hinblick auf juristische Personen des öffentlichen Rechts aus Drittstaaten, die als „verlänger-
ter Arm“ eines Drittstaats einzustufen sind, hat das EuG in seinem Urteil vom 5.02.2013 über
Sanktionen gegenüber dem Iran (T-494/10) die Eröffnung des Schutzbereiches von Art. 17 GRCh
angenommen.“ Die Klägerin, die iranische Staatsbank Bank Saderat Iran“, hatte in dem genann-
ten Verfahren die Nichtigerklärung der gegen den Iran erlassenen Sanktionen, soweit sie davon
betroffen war, beantragt.

39 EuGH, Urteil vom 23.01.2013, Rs. C-283/11 (Sky Österreich GmbH), ECLI:EU:C:2013:28, Rn. 34; vgl. hierzu Wol-
lenschläger, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Bd, 1, 7. Auflage 2015, Art. 51
GRCH, Rn. 9 ff..

40 Vgl. hierzu Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 17 GRCh, 3. Auflage 2018, Rn. 16.

41 Die GRCH gilt ferner für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dem-
entsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung ent-
sprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union
in den Verträgen übertragen werden, Art. 51 Abs. 1 Satz 1 a. E. GrCh.

42 Vgl. Callies, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 17 GRCh, Rn. 5 mit Verweis auf umfangreiche
EuGH-Rechtsprechung.

43 Zum Rechtsmittelverfahren vgl. EuGH, Urteil vom 21.04.2016, Rs. C-200/13 P (Rat u. a./Bank Saderat Iran u. a.),
ECLI:EU:C:2016:284; aus dem Schrifttum vgl. Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechtecharta, 4. Auflage 2021, Art. 51,
Rn. 57.

44 Hierbei handelt es um eine iranische Staatsbank, die zu 94 % im Eigentum der iranischen Regierung stand, vgl.
EuG, Urteil vom 5.2.2013, Rs. T-494/10 (Bank Saderat Iran/Rat), ECLI:EU:T:2013:59, Rn. 5.
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Zu der Frage, ob sich die Klägerin auf den Schutz der Garantien aus den Grundrechten, insb. Art.
17 GRCh berufen könne, hatte das EuG wie folgt ausgeführt:

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„Dabei ist zunächst zu beachten, dass weder die Charta der Grundrechte der Europäischen

- Union (ABl. 2010, C 83, S. 389) noch die Verträge Bestimmungen vorsehen, die juristische

Personen, die ein verlängerter Arm eines Staates sind, vom Schutz der Grundrechte ausschlie-
ßen. Im Gegenteil, die für die von der Klägerin erhobenen Klagegründe einschlägigen Bestim-
mungen dieser Charta, insbesondere ihre Art. 17, 41 und 47, verbürgen die Rechte „jede[r]
Person“, wobei diese Formulierung juristische Personen wie die Klägerin einschließt.“

[...)

„Im Licht der vorstehenden Ausführungen ist festzustellen, dass das Unionsrecht keine Rege-
Jung enthält, die juristische Personen, die der verlängerte Arm eines Drittstaats sind, daran
hindert, sich auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten zu berufen. Diese
Rechte können daher von diesen Personen vor dem Unionsrichter geltend gemacht werden,
soweit sie mit ihrer Eigenschaft als juristische Person vereinbar sind.“*°

— Fachbereich Europa -

EuG, Urteil vom 5.2.2013, Rs. T-494/10 (Bank Saderat Iran/Rat), ECLI:EU:T:2013:59, Rn. 34.

EuG, Urteil vom 5.2.2013, Rs. T-494/10 (Bank Saderat Iran/Rat), ECLI:EU:T:2013:59, Rn. 39.
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