Rechtsgutachten_Prof-Bayreuther_Umsetzung-CCOO-Urteil.pdf

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Gutachten von Frank Bayreuther zur Arbeitszeiterfassung

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IV. Umsetzung in das nationale Recht 1. Ausgangspunkt Ausgangspunkt einer Umsetzung der CCOO-Entscheidung in nationales Recht ist die dort mehrfach aufgestellte Forderung des EuGH, wonach die Mitgliedstaaten den Arbeitgeber verpflichten müssen, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen“, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete Arbeitszeit gemessen werden kann. 80 Die Zeiterfassung muss geeignet sein, um die Zahl der von dem Arbeitnehmer erbrachten Arbeitsstunden einschließlich etwaiger Mehrarbeit so objektiv feststellen zu können, damit sich mit ihrer Hilfe die Einhaltung folgender Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie kontrollieren lässt: 81 - Wöchentliche Höchstarbeitszeit (Art. 6), - Ausgleich bei einem Abweichen von der Höchstarbeitszeit gem. Art. 16 lit b. bzw. Art. 19, - Tägliche Ruhezeit (Art. 3 RiL), - Wöchentliche Ruhezeit (Art. 5 RiL), - Ggf. Ruhepausen iSd. Art. 4 RiL, s. dazu IV.4.b. Zudem müssen Arbeitnehmer und, falls nach dem mitgliedstaatlichen Recht solche zur Kontrolle der Einhaltung des Arbeitszeitrechts berufen sind, auch die Aufsichtsbehörden 82 einen angemessenen Zugang zu diesen Daten haben. Nähere Hinweise für die konkrete Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems gibt der EuGH allerdings nicht. Immerhin weist er darauf hin, dass den Mitgliedstaaten bei der Einführung eines Systems der Zeiterfassung ein Spielraum zukommt. Insbesondere können „(die) Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar der Eigenheiten bestimmter 83 Unternehmen, namentlich ihrer Größe“ berücksichtigt werden. Danach lässt sich die Verpflichtung zur Zeitaufzeichnung so flexibel ausgestalten, dass für das gesamte Wirtschaftsleben nicht ein- und dieselbe Erfassungsregel gelten muss. Weiterführende Hinweise zu den Einzelheiten der Zeiterfassung finden sich dagegen im Schlussvortrag des Generalanwalts. Zusammengefasst führt dieser aus: 80 EuGH (Fn. 1), u.a. Rn. 47, 49, 50, 54, 56, 57, 60, 62, 65. 81 EuGH (Fn. 1), Rn. 49. 82 EuGH (Fn. 1.) Rn. 56, 57, 62 83 EuGH (Fn. 1) Rn. 63. 31
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„Einige Kategorien von Arbeitnehmern und die Arbeitnehmer einiger spezifischer Branchen benötigen nämlich einen besonderen Schutz - aufgrund der der Leistung innewohnenden Merkmale, wie z. B. die Teilzeitbeschäftigten oder die mobilen Arbeitnehmer -, und für sie 84 sieht das Unionsrecht besonders strenge und umfassende Kontrollsysteme vor. Für die ´gewöhnlichen` Arbeitnehmer, die nicht in diese spezifischen Kategorien fallen, setzt die Richtlinie 2003/88 hingegen das Bestehen eines Mittels zur Erfassung der Arbeitszeit, das eine einfache Aufzeichnung in Papierform, in elektronischer Form oder ein anderes 85 Instrument, sofern es für das Ziel geeignet ist, sein kann, voraus. (…) Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die derzeitige Technologie die verschiedensten Systeme zur Erfassung der Arbeitszeit ermöglicht (Aufzeichnungen in Papierform, Computerprogramme, elektronische Zutrittsausweise), wobei diese Systeme auch nach den Besonderheiten und Erfordernissen der einzelnen Unternehmen unterschiedlich sein könnten. 86 Außerdem verfügen (…) die Mitgliedstaaten über ein weites Ermessen beim Erlass der nationalen Regelungen über die Arbeitszeit, (zudem fällt) auch die Regelung von unterschiedlichen Systemen je nach der organisatorischen Komplexität und den Merkmalen des jeweiligen Unternehmens in ihren 87 Ermessensspielraum (…) .“ Bei der Gewichtung der Überlegungen des Generalanwalts ist aber in Anschlag zu bringen, dass der Gerichtshof im Urteil auf diese nicht direkt eingeht. Zudem führt der Generalanwalt diese Überlegungen vor allem deshalb in die Diskussion ein, weil er den Vortrag der beklagten Arbeitgeberin entkräften möchte, wonach eine flächendeckende Erfassung der Arbeitszeit zu aufwändig und zu kostspielig wäre. Zu beachten ist zudem, dass der 88 Generalanwalt abschließend auf folgendes hinweist: „Auch wenn die Mitgliedstaaten über einen weiten Ermessensspielraum bei der Wahl der Formen und Wege zur Umsetzung der Verpflichtung, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, verfügen, ergibt sich (…), dass ein solches Erfassungssystem geeignet sein muss, (die fraglichen) Ziele zu erreichen.“ Schließlich ist in die Bewertung einzustellen, dass der EuGH in der Entscheidung mit einigem Nachdruck auf den 4. Erwägungsgrund der RiL 2003/88/EG hinweist, wonach der mit dem 84 Schlussantrag des Generalanwalts Pitruzzella v. 31.1.2019, C-55/18, Rn. 76. 85 Schlussantrag, Rn. 77. 86 Schlussantrag, Rn. 87. 87 Schlussantrag, Rn. 85. 88 Schlussantrag, Rn. 88. 32
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Arbeitszeitrecht intendierte Schutz nicht rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden darf. 89 2. Objektives und verlässliches System der Zeiterfassung Was die notwendige Erfassungs- und Kontrolldichte betrifft, darf die im Urteil immer wieder 90 anzutreffende Formel , wonach der Arbeitgeber ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einrichten müsse, nicht überbewertet werden. Zum einen dürfte ihr eine für das Unionsrecht nicht untypische, besonders nachdrückliche Wortwahl zu Grunde liegen. So sei etwa auf die in den Diskriminierungsrichtlinien enthaltene Formulierung hingewiesen, wonach die Mitgliedstaaten „wirksame, verhältnismäßige und 91 abschreckende Sanktionen“ für Verstöße vorsehen sollten. Zum anderen darf die fragliche Formulierung nicht isoliert vom Ausgangsfall und dem rechtlichen Kontext betrachtet werden, in den sie eingebettet ist. Dem EuGH geht es darum, dass sich für die Beschäftigten eine einfach zu realisierende und belastbare Möglichkeit ergibt, um festzustellen, wie lange er bereits gearbeitet hat und ob die zulässigen Arbeitszeitgrenzen (noch) gewahrt sind. Verständlich wird die Formulierung „objektiv und verlässlich“ vor allem dann, wenn man berücksichtigt, dass das (frühere) spanische Recht (ähnlich wie § 16 Abs. 2 ArbZG) den Arbeitgeber nur zur Aufzeichnung der Mehrarbeit verpflichtet hatte. Daraus können Beschäftigte aber allenfalls mittelbar ersehen, ob die Arbeitszeitbestimmungen eingehalten wurden. Eine einfache und sichere Beurteilung ist dagegen nicht möglich, weil diese darauf angewiesen sind, dass der Arbeitgeber die Grundarbeitszeit einhält und/oder sie eben doch dokumentiert. Ein wirklich verlässlicher Überblick darüber, welches Zeitvolumen noch bis zur Erreichung der Höchstgrenzen verbleibt, ist mithin aber nicht herstellbar. Hält der Arbeitgeber die Grundarbeitszeit nicht fest und/oder besteht Streit darüber, ob das Zeitdeputat bereits erschöpft ist, können die Beschäftigten eben nicht einfach auf einen Zeiterfassungsbogen verweisen. Vor allem aber gilt zu berücksichtigen, dass die beklagte Arbeitgeberin und die spanische Regierung geltend gemacht hatten, dass Arbeitnehmer alternativ ja von anderen Beweismitteln, wie Zeugenaussagen, der Vorlage von E-Mails oder der Untersuchung von Mobiltelefonen oder 89 S. nur EuGH (Fn. 1), Rn. 66. 90 Sie findet sich in gleicher Formulierung auch in anderen, vom Verfasser durchgesehenen Sprachfassungen des Urteils. 91 Etwa Erw. 26 RiL 2000/43/EG. 33
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Computern, Gebrauch machen könnten. 92 Angesichts der massiven Unwägbarkeiten, die mit derartigen Beweismitteln verbunden sind, hält der EuGH das für unzureichend oder in seinen Worten: für keine objektive und verlässliche Form der Arbeitszeiterfassung. Der Gerichtshof verlangt mithin die Einführung eines rationalen und berechenbaren Erfassungssystems. Indes dürfte es nicht die Intention des EuGH gewesen sein, den Mitgliedstaaten die Einführung einer ausschließlich informationstechnisch oder sonst wie automatisiert bzw. maschinell gesteuerten Zeiterfassung aufzugeben. Auch verlangt der EuGH nicht, dass die Messung der Arbeitszeit ausschließlich durch den Arbeitgeber gesteuert wird oder alleine durch informationstechnische Mittel vorgenommen werden könnte (s. zum Ganzen sogleich, IV. 4.a. und b). Entscheidend ist nur, dass es nicht in das Belieben des Arbeitgebers gestellt ist, ob und ggf. welche Arbeitszeiten dokumentiert werden sollen und welche nicht. Ebenso wenig darf den Beschäftigten eine Entscheidung dahingehend eröffnet werden, ob sie geleistete Zeiten verbuchen oder, namentlich auf Drängen des Arbeitgebers, außen vor lassen. Richtig ist zwar, dass die Mitgliedstaaten Missbräuchen vorbeugen müssen. Das heißt aber nicht, dass der EuGH die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber zur Einführung – 93 vermeintlich (s. dazu noch IV.4.b.) – „manipulationssicherer“ , weil datentechnischer Zeiterfassungssysteme verpflichten müssten. Ohnehin sollte sich der Gesetzgeber nicht primär an vielleicht denkbaren, aber gewiss nicht flächendeckend feststellbaren Missbrauchsszenarien orientieren, sondern eine generalisierende Regelung treffen. 3. Gegenprobe: Datenschutzrechtliche Grenzen Bei der Festlegung einer Zeiterfassungspflicht sind die Persönlichkeitsrechte der angesprochenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und natürlich auch die Vorgaben des Datenschutzrechts zu berücksichtigen: Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 GrCh, 94 Art. 88, Art. 6 Abs. 1 lit. b und c, Abs. 3 DS-GVO, Art. 8 EMRK. Aufzeichnungen über die Arbeitszeit, den Beginn und das Ende der Arbeit, über deren Dauer sowie zu den Ruhezeiten sind personenbezogene Daten iSd. Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Nr. 2 DS- GVO. Die Erfassung und Verarbeitung dieser Daten einschließlich ihrer Weitergabe an Aufsichtsbehörden ist indes gerechtfertigt, weil dies der Einhaltung der Vorgaben der 92 EuGH (Fn. 1) Rn. 53. 93 Anderer Ansicht: D. Ulber, NZA 2019, 677, 678. 94 § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG spielt hier keine Rolle, da es dem Gesetzgeber freisteht, eine im Vergleich zu dieser Regelung speziellere Vorschrift in das ArbZG aufzunehmen. 34
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95 Arbeitszeitrichtlinie dient. Zu beachten ist dabei freilich das datenschutzrechtliche 96 Verhältnismäßigkeitsgebot (u.a. Art. 6 Abs. 3 S. 4 DS-GVO). Auf dieses hat auch der EuGH mit Blick auf eine Erfassung der Arbeitszeit der Belegschaft aufmerksam gemacht. 97 Eine gesetzliche Verpflichtung, die dem Arbeitgeber aufgibt, für Beschäftigte, die ihre Arbeit ganz überwiegend rechnergestützt erbringen, über Tools oder Algorithmen (etwa: Login- Protokolle, automatisiert ausgewertete Keylogger-Protokolle, entsprechende Apps) unablässig 98 zu ermitteln, ob und wann diese für ihn aktiv sind , wäre unverhältnismäßig. Sie erschiene auch überschießend, weil der Schutz des Arbeitnehmers vor einer ungebührlichen zeitlichen Inanspruchnahme so mit dessen umfassender Überwachung erkauft werden würde. Das würde natürlich umso mehr gelten, wenn gar protokolliert werden müsste, ob ein Rechner aktuell zu dienstlichen oder nur zu privaten Zwecken genutzt wird. Was die Speicherung und Kontrolle der Verlaufsdaten betrifft, wird eine Protokollierung nur dann für zulässig gehalten, wenn gegen den Betroffenen der durch konkrete Tatsachen begründete Verdacht einer Straftat oder einer anderen schweren Pflichtverletzung besteht. Ergreift der Arbeitgeber dagegen solche Maßnahmen „ins Blaue hinein“ – und hierzu wird man auch deren Protokollierung zwecks Zeiterfassung rechnen müssen – sind diese nicht mehr verhältnismäßig. Vielmehr hält die Rechtsprechung alleine die vorübergehende Speicherung und stichprobenartige Kontrolle der Verlaufsdaten für möglich und auch dies nur, um die Einhaltung eines Verbots oder einer Beschränkung der Privatnutzung von IT-Einrichtungen des Arbeitgebers zu kontrollieren. 99 Das hat das BAG zuletzt im Keylogger-Urteil , dies nicht zuletzt auch im Hinblick auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH, ganz unmissverständlich herausgearbeitet: „(…) mit der Datenerhebung durch einen Keylogger (wird) massiv in das Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen. Es werden – für den Benutzer irreversibel – alle Eingaben über die Tastatur eines Computers einschließlich des Zeitpunkts der Eingabe sowie des zeitlichen Abstands zwischen zwei Eingaben erfasst und gespeichert. Die auf diese Weise gewonnenen Daten ermöglichen es, ein nahezu umfassendes und lückenloses Profil sowohl von der privaten als auch dienstlichen Nutzung durch den 95 EuGH 30. 5. 2013, C-342/12, NZA 2013, 723 (Worten). 96 S. allgemein Gola/Heckmann, BDSG, 13. Auflage 2019, § 26 Rn. 67. YW EuGH 30. 5. 2013, C-342/12, NZA 2013, 723 (Worten) Rn. 34. 98 Zu einer derartigen Erfassungspflicht tendieren allerdings: Leist, jurisPR-ArbR 22/2019 Anm. 1 sub. D.III.1., insbesondere für den Fall, dass die Arbeiten des Arbeitnehmers – so wörtlich – „live nachvollzogen werden“ können; Happ, jurisPR-Compl 3/2019 Anm. 2 sub. D.II.2.; Roetteken, jurisPR-ArbR 23/2019 Anm. 1., sub D. M.E. völlig aus dem Rahmen fallen: Felisiak/Schmidt, BC 2019, 271,273: Überwachung des Ein- und Ausloggens am Computer, mittels Apps und biometrischen Daten, insbesondere Scan der Iris, so dass Nutzung des Computers überprüft werden kann. 99 BAG 27.7.2017, 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327 Rn. 33. 35
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Betroffenen zu erstellen. Dabei werden nicht nur gespeicherte Endfassungen und gegebenenfalls Zwischenentwürfe bestimmter Dokumente sichtbar, sondern es lässt sich jeder Schritt der Arbeitsweise des Benutzers nachvollziehen. Darüber hinaus können besondere Arten personenbezogener Daten oder andere hochsensible Daten wie zB Benutzernamen, Passwörter für geschützte Bereiche, Kreditkartendaten, PIN-Nr. etc. protokolliert werden, ohne dass dies für die verfolgten Kontroll- und Überwachungszwecke erforderlich wäre. Ebenso hat der betroffene Arbeitnehmer weder Veranlassung noch die Möglichkeit, bestimmte Inhalte als privat oder gar höchstpersönlich zu kennzeichnen und damit gegebenenfalls dem Zugriff des Arbeitgebers zu entziehen. Dieser ohnehin schon weit überschießende Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen wird noch verstärkt, wenn – wie hier – regelmäßig Screenshots gefertigt werden.“ Explizit mit Blick auf die Zeiterfassung (§ 26 AZG [österreichisches Arbeitszeitgesetz, im 100 Weiteren: AZG-AT) hat der österreichische OGH Bedenken gegen eine Kontrolle der Beschäftigten durch Abgabe von Fingerprints bei Betreten und Verlassen der Betriebsstätte angemeldet. Zwar sei es legitim, dass der Arbeitgeber die Arbeitszeiten seiner Beschäftigten kontrolliert und erfasst. Die Interessenwahrungspflicht der Arbeitnehmer gebiete sogar, den Arbeitgeber dabei zu unterstützen. Die Fürsorgepflicht verlangt vom Arbeitgeber aber auch, das für die Arbeitnehmer schonendste noch zum Ziel führende Kontrollmittel zu wählen (der OGH erwähnt insoweit: Aufzeichnungen, Bedienung einer Stechuhr, Verwendung von Magnetkarten). Dagegen erreicht die Bedienung eines Fingerscanners in Relation zum angestrebten – so der OGH wörtlich – „vergleichsweise trivialen Ziel“ – eine Intensität, die dem Gerichtshof mit Rücksicht auf die Menschenwürde hinterfragbar erscheint. 4. Durchführung und Gegenstand der Zeiterfassung a) Form der Erhebung Wie bereits eingangs dieses Kapitels (IV.1. und 2.) dargelegt, lässt sich dem Urteil des EuGH keine Verpflichtung zur Einführung eines gleichsam datentechnisch „verobjektivierten“ Zeiterfassungssystems entnehmen, jedenfalls aber ist der Gesetzgeber nicht gehalten, anzuordnen, dass die Erfassung nur durch eine datentechnische Aufzeichnung erfolgen darf. Wie dort ebenfalls herausgearbeitet wurde, hält der Generalanwalt eine einfache Aufzeichnung 100 in Papierform, eine Erfassung OGH 20.12.2006, 9 ObA 109/06d. 36 in elektronischer Form, durch
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Computerprogramme, über elektronische Zutrittsausweise oder eben auch jedes andere geeignete Instrument für ausreichend. 101 Auch ist nochmals auf den Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten hinzuweisen, der es ermöglicht, den Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs bzw. den Eigenheiten bestimmter Unternehmen Rechnung zu tragen. Voraussetzung ist aber stets, dass das jeweils eingesetzte Mittel geeignet dazu ist, eine verlässliche Aufzeichnung der Arbeitszeit herbeizuführen. Nach wie vor ist also nicht ausgeschlossen, dass die Zeiterfassung durch Stundenzettel erfolgt, die die Beschäftigten erstellen (s. dazu auch noch IV.4.b.), mag es auch sein, dass diese zu einem bestimmten Teil auch auf deren subjektive Beobachtung basieren. 102 Die bisherigen Aufzeichnungspflichten (§§ 16 Abs. 2 ArbZG, 17 MiLoG, 19 AEntG usw.) schreiben keine bestimmte Form für Arbeitszeitnachweise vor. Entsprechend wird in der Literatur, aber auch in der Praxis die gesamte Palette möglicher Erfassungsinstrumente für zulässig gehalten bzw. genutzt, wie etwa Buchungen bei Betreten oder Verlassen des Betriebs durch Stempeluhren oder elektronische Zugangsausweise, Erfassung durch Arbeitszeitkarten, Apps 103 , Dienstpläne, Stundenzettel 104 oder eine, ggf. auch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorgenommene (s. dazu auch noch IV.4.b.) „händische“ Einbuchung in elektronische Dokumente, wie z.B. Excel-Tabellen. Eine datentechnische Zeiterfassung könnte aber dann zur Regel gemacht werden, wenn Beschäftigte ihre Tätigkeit vollständig am Betriebsort erbringen. Dort können die Vorgaben des EuGH durch den Einsatz von Zugangsausweisen, Stechuhren und Zeiterfassungssystemen problemlos erfüllt werden. Umgekehrt könnte Arbeitgebern, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausschließlich nach einem fixen Zeitplan beschäftigen, eine Erleichterung der Dokumentation gewährt werden. Insoweit würde genügen, dass sie nur die Einhaltung der Zeitpläne bestätigen und lediglich Abweichungen davon aufzeichnen müssen (vgl. § 26 Abs. 5 AZG-AT). Doch gilt zu beachten, dass es nach wie vor viele Tätigkeiten gibt, die außerhalb fester Betriebsstätten und dabei nicht mit informationstechnischen Mitteln erbracht werden bzw. durch solche nicht ohne weiteres abbildbar sind (etwa: Bau, Kundendienst des Handwerks, Vertreter im Außendienst usw.). In diesen wird die handschriftliche Aufzeichnung von Arbeitszeiten das Mittel der Wahl bleiben. 101 Schlussantrag, Rn. 77. 102 Sittard/Esser, jM 2019, 284, 289; Diese halten für unzureichend: D. Ulber, NZA 2019, 677, 678; Leist, jurisPR-ArbR 22/2019 Anm. 1 sub. D.III.1.; zweifelnd auch: BeckOK-ArbR/Kock, Fn. 19, § 16 Rn. 4c. 103 S. BMAS-App „einfach erfasst.“ 104 S. etwa zu § 17 MiLoG den auf der Homepage des BMAS abrufbaren Musterbogen. 37
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Nun könnte man sich natürlich dafür aussprechen, auch für diese Tätigkeiten eine elektronische Zeiterfassung einzuführen, etwa dahingehend, dass die betreffende Person Arbeitsbeginn und -ende in eine App eingeben muss. Davon abgesehen, dass dies den Beschäftigten aufbürdet, das entsprechende Eingabegerät (und sei es nur ein Smartphone) mit sich zu führen, darf man sich nicht vormachen, dass die so getätigten Aufzeichnungen verlässlicher wären als ein per Hand ausgefüllter Stundenzettel. Beschäftigte, die bereit sind, auf dem Papier unrichtige Angaben zu machen, werden auch eine App entsprechend bedienen. Anderes würde sich eben nur ergeben, wenn die App so gestaltet wäre, dass die Beschäftigten umfassend überwacht werden würden, s. dazu aber oben IV.3. Aber auch für Beschäftigte, die – ganz gleich, ob im Betrieb oder im Homeoffice – überwiegend am Rechner tätig sind, lassen sich Arbeitszeiten nicht einfach dadurch erfassen, indem festgehalten wird, ob der Computer „an ist.“ Vielmehr leisten selbst diese durchaus auch Arbeit ohne Nutzung des Rechners, während umgekehrt nicht schon gearbeitet wird, nur weil der Computer hochgefahren wurde. Schließlich kann der Arbeitgeber auch auf bereits existierende Aufzeichnungen zugreifen (Lohnlisten, Arbeitszeitkarten, Abrechnungen für Kunden, technische Aufzeichnungen). Aus diesen muss die von der Arbeitnehmerin bzw. vom Arbeitnehmer täglich geleistete 105 Arbeitszeit aber in verlässlicher Weise hervorgehen. Andernfalls muss der Arbeitgeber die erlangten Daten in einer Art und Weise zusammenführen, dass die Arbeitszeiten jederzeit eingesehen werden können. b) Delegation der Zeitaufzeichnung auf die Beschäftigten Bereits unter IV.2. wurde dargelegt, dass sich dem Urteil des EuGH nicht entnehmen lässt, dass die Messung der Arbeitszeit ausschließlich durch den Arbeitgeber gesteuert werden müsste. Erforderlich ist zwar, dass der Arbeitgeber für die Zeiterfassung insgesamt in die Verantwortung genommen wird; der Erhebungsvorgang selbst kann dagegen durchaus auch auf die Beschäftigten delegiert werden. 106 Entsprechend ist ein arbeitnehmerseitiges 107 Protokollieren der Arbeitszeit zum Beispiel per Stundenzettel oder Excel-Tabelle zulässig. 105 So zu § 16 Abs. 2 ArbZG: Buschmann/Ulber, Fn. 3, § 16 Rn. 5b; Anzinger/Koberski, Fn. 2, § 16 Rn. 10; BeckOK-ArbR/Kock, Fn. 19, § 16 ArbZG Rn. 7. 106 Sittard/Esser, jM 2019, 284, 289; Naber, Newsdienst Compliance 2019, 330027; Fuhlrott, NZA-RR 2019, 343 (Ziff. 3); ders./Garden, ARbRAktuell 2019, 263, 264 f.; BeckOK-ArbR/Kock, Fn. 19, § 16 ArbZG Rn. 4c, wenngleich daran dann doch etwas zweifelnd. Skeptisch: D. Ulber, NZA 2019, 677, 678. 107 Happ, jurisPR-Compl 3/2019 Anm. 2 sub. D.II.2b.. 38
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Für die §§ 16 Abs. 2 110 Mindestlohnrechts 108 und 21 ArbZG 109 , aber auch für die Aufzeichnungspflichten des ist das weitgehend anerkannt. Der Arbeitgeber kann die Zeiterfassung dabei auch einem Dritten zuweisen, etwa im Fall von Arbeitsgruppen, die außerhalb von festen Betriebsstätten tätig werden (Beispiel: Kolonnenführer in der Baubranche). 111 Dagegen sollte nicht vorschnell eingewandt werden, dass sich mit einer Übertragung der Zeiterfassung auf die Beschäftigten Missbrauchsmöglichkeiten eröffnen könnten. Richtig ist zwar, dass der EuGH darauf hinweist, dass festzustellen ist, dass ein Arbeitnehmer aufgrund dieser schwächeren Position davon abgeschreckt werden könnte, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen, da insbesondere die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen könnte, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken können. 112 In der Literatur im Nachgang zur CCOO wurde das Beispiel genannt, dass ein Arbeitgeber von einem Arbeitnehmer verlangen könnte, „auszustempeln“, um anschließend weiter zu arbeiten oder diesem das Gefühl vermitteln 113 könnte, dass sie ihre Arbeitszeit besser unvollständig dokumentieren sollten. Indes würde sich ein derart eklatant rechtswidriges Verhalten noch weniger verhindern lassen, wenn ein solcher Arbeitgeber die Arbeitszeiten selbst aufzeichnen würde (erneut gilt anderes nur dann, wenn man sich für eine datentechnisch verobjektivierte „Totalüberwachung“ der geleisteten Arbeitszeit ausspricht). Zudem dürfte gerade die Verpflichtung der Beschäftigten zur Dokumentation ihrer Arbeitszeit schon deshalb eine zeitdisziplinierende Wirkung haben, weil diese wohl nicht so einfach bereit sein werden, fehlerhafte Aufzeichnungen zu tätigen und/oder zu bestätigen, vor allem aber, weil schon viel gewonnen ist, wenn Arbeitgebern, aber auch den Beschäftigten deutlich vor Augen geführt wird, wie viel Arbeit bereits geleistet wurde bzw. dass die zulässigen Grenzen längst überschritten sind. 108 Schliemann, Fn. 2, § 16 Rn. 8; Anzinger/Koberski, Fn. 2, § 16 Rn. 12; Erfk/Wank, Fn. 2, § 16 Rn. 5; Baeck/Deutsch, Fn. 2, § 16 Rn. 5; BeckOK-ArbR/Kock, Fn. 19, § 16 ArbZG Rn. 7; Hahn/Pfeiffer/Schubert/Sitzenfrei, Fn. 2, § 16 Rn. 25; LAG Rheinland-Pfalz 5.06.2013, 8 Sa 571/12, BeckRS 2014, 65219; Erlass Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales NRW v. 30.12.2013, II 2 – 8312 § 16 Ziff. 3; aA (mit der Anerkennung von Ausnahmen): Buschmann/Ulber, Fn. 3, § 16 Rn. 16. 109 Schliemann, Fn. 2, § 21a Rn. 39; Anzinger/Koberski, Fn. 2, § 21a Rn. 30. Hahn/Pfeiffer/Schubert/Sänger, Fn. 2, § 21a Rn. 16; aA Buschmann/Ulber, Fn. 3, § 21a Rn. 44a. 110 Thüsing/Joussen, Fn. 22, § 17 MiLoG Rn. 13; Riechert/Nimmerjahn, Fn. 2, § 17, Rn. 50; Maschmann, NZA 2014, 929, 936; Urban-Crell/ Gemakowski/Bissels/Hurst, AÜG, 3. Auflage 2017, § 17c Rn. 4. Schüren/Hamann/Diepenbrock, AÜG, 5. Auflage 2018, § 17c Rn. 4. HK-AÜG/Ulrici, 2017, § 17c Rn. 8. Thüsing/Kock, AÜG, 4. Auflage 2018, § 17c Rn. 55; Boemke/Lembke/Marseaut, AÜG, 3. Auflage 2013, § 17c Rn.8. 111 Für das bisherige Recht: Buschmann/Ulber, Fn. 3, § 16 Rn. 17. 112 EuGH (Fn. 1) Rn. 45. 113 In diese Richtung: Heuschmid, NZW 2019, 1853, 1853. Dementgegen weist Fuhlrott, NZA-RR 2019, 343 (Ziff. 3) daraufhin, dass sich ein derart eklatant rechtswidriges Verhalten nur durch intensive Kontrollen, am besten aber wohl durch eine vernünftige Unternehmenskultur vermeiden lässt. 39
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Zumindest sollte eine Delegationsbefugnis dann zugelassen werden, wenn es dem Arbeitgeber nur mit sehr großem Aufwand oder auch gar nicht, der Arbeitnehmerin oder dem Arbeitnehmer dagegen verhältnismäßig leicht möglich ist, die Arbeitszeit zu dokumentieren. 114 Das dürfte auf viele mobile Beschäftigte, Beschäftigte im Homeoffice oder Kunden- und Außendienstmitarbeiter zutreffen (so im, wenngleich recht unscharf, § 26 Abs. 3 und 4 AZG- 115 AT ). Sollen die Beschäftigten ihre Arbeitszeit selbst erheben, muss der Arbeitgeber diese anleiten, die Aufzeichnungen zumindest stichprobenartig auf Richtigkeit kontrollieren und natürlich 116 überprüfen, ob danach die Vorgaben des Arbeitszeitrechts eingehalten sind. So sieht etwas das österreichische Recht (§ 26 Abs. 2 und Abs. 4 S. 2 AZG-AT) für den Fall der Delegation der Zeiterfassung an die Beschäftigten vor: „… hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zur ordnungsgemäßen Führung der Aufzeichnungen anzuleiten, sich die Aufzeichnungen regelmäßig aushändigen zu lassen und zu kontrollieren.“ Zudem hat der Arbeitgeber durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Arbeitszeitaufzeichnungen innerhalb der Fristen vorgenommen werden, die dem Arbeitgeber für die Aufzeichnungen gesetzt sind (s. sogleich, IV.4.e.). 117 Eine Abzeichnung der Arbeitszeitnachweise durch den 118 Arbeitgeber oder Beschäftigte ist nicht erforderlich. Schließlich wird der Arbeitgeber verpflichtet sein, die ihm durch die Beschäftigten übermittelten Daten in einer Art und Weise aufzubereiten, so wie er sie selbst hätte erheben bzw. erfassen müssen. Schlussendlich wird auf individualrechtlicher Ebene davon auszugehen sein, dass dann wenn der Arbeitgeber den durch Beschäftigte erstellten Nachweisen nicht in angemessener Zeit 119 widerspricht, eine Vermutung für deren Richtigkeit besteht. 114 Heuschmid, NJW 2019, 1853, 1853. Vorsichtig in diese Richtung auch für das geltende Recht: Buschmann/Ulber, Fn. 3, § 16 Rn. 17, der ansonsten eine Übertragung auf den Arbeitnehmer ablehnt. 115 (3) Für Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer, die die Lage ihrer Arbeitszeit und ihren Arbeitsort weitgehend selbst bestimmen können oder ihre Tätigkeit überwiegend in ihrer Wohnung ausüben, (…) (4) Durch Betriebsvereinbarungen kann festgesetzt werden, dass Arbeitnehmer gemäß Abs. 3 die Aufzeichnungen selbst zu führen haben. (…) 116 Heuschmid, NJW 2019, 1853, 1853; so bereits zu § 16 ArbZG: Baeck/Deutsch, Fn. 2, § 16 Rn. 28; Schliemann, Fn. 2, § 16 Rn. 8; Anzinger/Koberski, Fn. 2, § 16 Rn. 12; Neumann/Biebl, Fn. 2, § 16 Rn. 7; BeckOK-ArbR/Kock, Fn. 19, § 16 ArbZG Rn. 8; Buschmann/Ulber, Fn. 3, § 16 Rn. 17; Eylert, NZA-Beilage 2017, 95, 96; Schlottfeld/Hoff, NZA 2001, 530, 532; Erlass Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales NRW v. 30.12.2013, II 2 – 8312 § 16 Ziff. 3. 117 Zu § 17 MiLoG: Riechert/Nimmerjahn, Fn. 2, § 17, Rn. 48 118 Zu § 16 ArbZG: BeckOK-ArbR/Kock, Fn. 19, § 16 ArbZG Rn. 4c; Riechert/Nimmerjahn, Fn. 2, § 17, Rn. 48; Schliemann, FA 2016, 66, 68. 119 In diese Richtung – zu § 16 ArbZG: HK/Ernst/Bartl, Fn. 2, § 16 ArbZG Rn. 5. 40
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