bt-wd-pushbacks-griechenland.pdf

/ 22
PDF herunterladen
Wissenschaftliche Dienste 4. Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 11 Anwendung des Refoulementverbots 28 Der Refoulementgrundsatz – verankert in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, in 29 Art. 3 Abs. 1 der VN-Antifolterkonvention von 1984, in Art. 19 Abs. 1 GrCh sowie in der Recht- sprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK – begründet das Verbot aufenthaltsbeendender Maßnah- men bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land, in das eine Zurück- 30 weisung erfolgen soll. 4.1. Zurückweisung „über“ die Grenze Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genügen, muss die Schutzwürdigkeit der betreffen- den Person in einem individuellen Verfahren überprüft werden, bis zu dessen Abschluss keine Abschiebung oder Zurückweisung erfolgen darf. Im Fall Sharifi u.a. gegen Italien und Griechen- 31 land, in dem die afghanischen Beschwerdeführer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen Hafen wieder nach Griechenland zurückgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expe- diert werden sollten, bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maßstab von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art. 3 EMRK, weil in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewährleistet war. Führt Griechenland also – wie angekündigt – „heiße“ Abschiebungen (push-backs) von bereits auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch, ohne eine Möglichkeit zu ge- währleisten, Asylanträge stellen zu können bzw. eine individuelle Prüfung ihrer Schutzwürdig- 32 keit vorzunehmen, liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots. 28 Text abrufbar unter https://www.unhcr.org/dach/wp- content/uploads/sites/27/2017/03/GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansicht.pdf. 29 BGBl. 1990 II S. 246, abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF- Dateien/Pakte_Konventionen/CAT/cat_de.pdf. 30 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 791. Gilbert Gornig, Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, Wien: Braumüller, 1987. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 20 Rdnr. 75 ff. 31 EGMR, Sharifi u.a. gegen Italien und Griechenland, Urteil vom 21. Oktober 2014, Beschwerde-Nr. 16643/09, http://hudoc.echr.coe.int/eng-press?i=003-4910702-6007035. 32 Vgl. insoweit auch die rechtliche Einschätzung des UN-Sonderberichterstatters für die Menschenrechte von Migranten, Gónzales Morales – vgl. Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights, 23. März 2020. „Greece: Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stop” https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25736&LangID=E.
11

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 12 4.2. Zurückweisung „an“ der Grenze Völkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden, die sich jenseits des griechischen Grenzzaunes auf türkischer Seite befinden und durch Zäune, Wasser- werfer oder Tränengas daran gehindert werden, das griechische Territorium überhaupt zu errei- chen, um einen Asylantrag zu stellen. Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates gekoppelt ist – weil erst dann, wie Art. 33 Abs. 1 GFK formuliert, eine Zurückweisung „über die Grenzen“ möglich ist – oder auch schon „an“ der Grenze, d.h. in gewisser Weise extraterritorial 33 Anwendung findet, war rechtlich lange umstritten, scheint sich aber mittlerweile weitgehend geklärt zu haben: Nach Auffassung der völkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot auch einer Rückschiebung von Flüchtlingen entgegen, die das Staatsgebiet noch nicht betreten 34 haben, sondern an der Grenze um Schutz ersuchen. Mit Blick auf den Sinn und Zweck der GFK, möglichst umfassenden Schutz zu bieten, soll Art. 33 GFK überall dort Anwendung finde, wo ein Staat Hoheitsgewalt (i.S.v. effektiver Kontrolle) über einen Asylsuchenden ausübe (z.B. auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See). Dies könne – bildlich gesprochen – auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein, der direkt auf der Grenzlinie steht und den ankommenden Asylsuchenden, der sich noch auf dem Territorium des anderen Staates befindet, abweist, bzw. gar nicht erst einreisen lässt (sog. push-back-Situation). Der Grenzbeamte übt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus, die über die Grenze hinweg fortwirkt und völkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist. Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall M.A. u.a. gegen Litauen einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, weil den Beschwerdeführern, obwohl sie den litauischen Beamten an der Grenze ihre Absicht, Asyl zu beantragen, erkennbar gemacht hatten, die Einreise ohne weitere 35 Prüfung verwehrt wurde. 33 Vgl. zur Diskussion Kälin/Caroni/Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, Oxford University Press 2011, Art. 33 Abs. 1 Rdnr. 106. 34 Kälin/Caroni/Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, Oxford Univ. Press 2011, Art. 33 Abs. 1 Rn. 87 f. (m.w.N. in Fn. 230) und Rdnr. 106. Alleweldt, Ralf, Schutz vor Abschiebung und drohender Folter, Berlin, Heidelberg: Springer 1996, S. 98. UNHCR, Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, https://www.unhcr.org/4d9486929.pdf, Rdnr. 24 ff. 35 EGMR, M.A. u.a. gegen Litauen, Urteil vom 11. Dezember 2018, Rdnr. 105-115, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-188267.
12

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 13 4.3. Abschottung und positive Verpflichtungen Die europäische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit, dass man einen Antrag auch „an 36 der Grenze“ stellen kann, ohne dabei allerdings die konkreten Modalitäten dafür festzulegen. So stellt sich die Frage, wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist, bei denen ein Staat den Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert, weil er die Grenze komplett geschlossen hat und es – anders als in dem oben erwähnten Fall M.A. u.a. gegen Litauen – zu einem persönlichen Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt. Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist, ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht ein- 37 deutig geklärt. Für die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das „Sinn-und-Zweck-Argument“: Das Menschenrecht würde ansonsten tendenziell leerlaufen und seinen humanitären Schutzzweck verfehlen, wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflich- tungen durch Abschottung entziehen könnten. An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an. So erin- nert der EGMR in der Entscheidung N.D. und N.T. gegen Spanien zunächst an die Verpflichtung der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes: „[…] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaran- teed by the Convention and the Protocols thereto, and in particular by Article 3 of the Convention […].” “[…] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective access to means of legal entry, in particular border procedures for those who have arrived at the border. Those means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection, based in partic- ular on Article 3 of the Convention, under conditions which ensure that the application is processed in a 38 manner consistent with the international norms, including the Convention.” Dabei hebt der EGMR u.a. die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung hervor: 36 Vgl. Art. 3 Abs. 1 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2013:180:0060:0095:DE:PDF. 37 FAZ vom 3. März 2020, „Mit Humanität und Härte“, Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym, https://www.faz.net/einspruch/interview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015.html. ZEIT online vom 3. März 2020, „Deutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechen“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenland- daniel-thym.: „Doch was heißt an der Grenze? Gilt das Recht auf Antragstellung schon für alle, die auf der ande- ren Seite des Grenzzauns stehen, oder nur für jene, die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen? Das ist ungeklärt.“ Thym, Daniel, „Das Ende einer Illusion“, in: FAZ vom 26. März 2020, S. 6, https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/europaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion- 16696503.html. 38 EGMR, Urteil vom 13. Februar 2020, Rdnr. 171 und 209, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-201353.
13

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 14 “However, it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their bor- ders – either their own borders or the external borders of the Schengen area, as the case may be – in a manner which complies with the Convention guarantees, and in particular with the obligation of non-refoulement. In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain, in response to recent migratory flows at its borders, to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to access them, and thus to render more effective, for the benefit of those in need of protection against refoulement, the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purpose.” 39 Der EGMR erinnert weiter daran, “that the Convention is intended to guarantee not rights that are 40 theoretical or illusory but rights that are practical and effective.” Legt man das Refoulementver- bot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK- 41 Rechte) sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) aus, so 42 liegt es nahe, eine positive Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen, reguläre Einreisemöglichkeiten zu schaffen. Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich „kein Loch in den Zaun schneiden, um die Person hereinlassen, die nur das Wort ´Asyl` über den Zaun gerufen 43 hat“. Es reicht völlig aus, bestehende Grenzübergangsstellen zu öffnen, um einen effektiven 44 Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermöglichen. Die explizite Bestätigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus, doch handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortführung seiner ständigen Rechtspre- chung zu den positiven Schutzpflichten. 39 EGMR, N.D. und N.T. gegen Spanien, Urteil vom 13. Februar 2020, Rdnr. 232. 40 Ebda., Rdnr. 171. 41 Vgl. zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas, William A., „The European Convention on Human Rights. A Commentary“, Oxford 2015, S. 33 ff. (49 f.). Mayer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK. Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2015, Einl. Rdnr. 48. 42 Vgl. zum Konzept der Gewährleistungspflichten (engl. positive obligations) in der EMRK vgl. Grabenwar- ter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 19 Rdnr. 1 ff. 43 So etwa zugespitzt Thym, Daniel, „Das Ende der Illusion“, in: FAZ vom 26. März 2020, S. 6. https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/europaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion- 16696503.html. 44 Dafür plädieren u.a. das Deutsche Institut für Menschenrechte, „Das Vorgehen Griechenlands und der EU an der türkisch-griechischen Grenze – Eine menschen- und flüchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situati- on“, März 2020, S. 3 sowie Amnesty International, ZEIT online vom 2. März 2020, „Amnesty fordert sichere Grenzübergänge für Flüchtlinge“, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-03/eu-aussengrenze-amnesty- international-ngo-fluechtlinge-tuerkei.
14

Wissenschaftliche Dienste 5. Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 15 Einschränkungen des Refoulementverbots Im Folgenden soll – auch über die konkrete Situation an der türkisch-griechischen Grenze hin- ausgehend – untersucht werden, aus welchen Gründen bzw. angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschränkt werden dürfte. 5.1. Zurückweisungen in einen sicheren Drittstaat Fraglich ist zunächst, ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehal- ten werden kann, dass – jedenfalls aus griechischer Sicht – die Menschen an der türkisch- griechischen Grenze aus einem sog. sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Türkei kommen bzw. in einen solchen Staat zurückgeschoben werden sollen. Der Begriff des ´sicheren Drittstaates` ist kein völkerrechtlicher Begriff, sondern (nur) ein – wenngleich zentraler – Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art. 16a Abs. 2 GG und 45 § 26a Asylgesetz ), der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt, die insb. über EU- bzw. EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind. Auch bei Zurückführungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen Prüfung nicht entziehen, etwa um sicherzustellen, dass der Drittstaat den Betroffenen nicht will- 46 kürlich weiterschiebt und damit eine „Kettenabschiebung“ auslöst. So hat das BVerfG klarge- stellt, dass die Einstufung eines Staates als „sicherer Drittstaat“ im Einzelfall widerlegbar sein 47 könne. So dürfe der Drittstaat „nach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein, Ausländer in einen solchen Staat abzu- schieben, in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht, ohne dass dort (d.h. im "Viertstaat") in einem förmlichen Verfahren geprüft worden ist, ob die Voraussetzungen der Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK vorliegen, oder ein dementsprechender Schutz tatsächlich gewährleistet ist. Hält sich ein Staat (Drittstaat) zur Weiterschiebung von Flüchtlingen in einen anderen Staat für befugt, obwohl dort diese Vo- raussetzungen nicht gegeben sind, ist die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention im Drittstaat nicht sichergestellt. 45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), https://www.gesetze- im-internet.de/asylvfg_1992/__26a.html. 46 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 20 Rdnr. 86. Classen, Claus Dieter, „Sichere Drittstaaten – ein Beitrag zur Bewältigung des Asylproblems?“, in: DVBl. 1993, S. 700-705 (701). Kälin, Walter, Das Prinzip des Non-Refoulement, Bern 1982, S. 110. EGMR, M.A. und andere gegen Litauen, Urteil vom 11. Dezember 2018, Beschwerde-Nr. 59793/17, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-188267, Rn. 104: „It is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks faced.” 47 BVerfGE 94, 49, Urteil vom 14. Mai 1996, Rdnr. 170, http://www.bverfg.de/e/rs19960514_2bvr193893.html.
15

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 16 Denn gemäß Art. 33 Abs. 1 GFK darf ein Flüchtling nicht auf irgendeine Weise ("in any manner whatsoever") über die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zurückgewiesen werden, in denen ihm Verfolgung droht. Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die Abschiebung oder Zurückweisung in solche Staaten, in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat droht.“ Der EGMR misst der Tatsache, dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw. der EMRK erfolgen soll, zwar eine gewisse Bedeutung zu, doch lässt er keinen Zweifel daran, dass auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umständen eine Verlet- 48 zung des Art. 3 EMRK bedeuten kann. Selbst die Überstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat könne konventi- 49 onswidrig sein. So stellte der EGMR im Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland eine Ver- letzung des Refoulementverbots gem. Art. 3 EMRK fest, weil die belgischen Behörden nach Grie- chenland überstellt hatten, obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Le- bensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten. Nach Auffassung des EGMR dürfe also nicht von den formalen Rechtsbindungen, denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt, auf die 50 tatsächlichen Zustände im Land geschlossen werden. Eine Überprüfung des Einzelfalles bleibt 51 somit unerlässlich. Im Fall Ilias u. Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlängst die ungarische Praxis, die Serbien generell als sicher eingestuft, und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfah- ren (in Serbien) umfasst, als Verletzung von Art. 3 EMRK angesehen. Die Asylsuchenden müssen nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben, in dem geprüft wird, ob sie schutzbedürftig sind und ob eine Rückweisung im Einzelfall gegen die Konvention verstößt. „The Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third inter- mediary country without examination of the asylum requests on the merits, regardless of whether the receiving third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not, it is the duty of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker 48 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 20 Rdnr. 85 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung. Alleweldt, Ralf, Schutz vor Abschiebung und drohender Folter, Berlin, Heidelberg: Springer 1996, S. 61 ff. Walter, Christian, „Abschiebungsschutz für den Kalifen von Köln“, in: JZ 2005, S. 788-791. 49 EGMR (GK), Urteil vom 21. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 30696/09, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-103293%22]}. 50 So auch Thym, Daniel, „Das Ende der Illusion“, in: FAZ vom 26. März 2020, S. 6. https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/europaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion- 16696503.html. 51 So auch Arnauld, Andreas v., „Konventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik – Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall M.S.S. ./. Belgien und Griechenland“, in: EuGRZ 2011, S. 238-242 (239).
16

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 17 being denied access, in the receiving third country, to an adequate asylum procedure, protecting him or her 52 against Refoulement.” Nur unter der Voraussetzung, dass es stimmt, dass den betroffenen Personen in der Türkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen, lässt sich eine Verletzung des Refou- lementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen. Um dies herauszufinden, bedarf es einer Einzelfallprüfung. 5.2. Massenfluchtbewegungen Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich für die Behörden als schwierig bis nahezu unmöglich erweisen, jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrecht- 53 lich bzw. europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu prüfen. Bei Massenfluchtbewegungen hat 54 sich flüchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet, bis zur Prüfung des Einzelfalls vorläufigen Schutz zu gewähren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzu- 55 führen. Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmäßig als Gefahr für den 56 sozialen Frieden und damit für die öffentliche Sicherheit ihres Landes an und begründen damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots. 52 EGMR, Ilias u. Ahmed gegen Ungarn, Urteil vom 21. November 2019, Beschwerde Nr. 47287/15, Rdnr. 134, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-198760%22]}. 53 Vgl. zur Frage des Massenzustroms Kälin/Caroni/Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, Oxford University Press 2011, Art. 33 Abs. 1 Rdnr. 132 ff. 54 Vgl. zur europarechtlichen Praxis die Regelungen über vorübergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten. 55 UNHCR Guidelines on International Protection No. 11: Prima Facie Recognition of Refugee Status, HCR/GIP/15/11 vom 24. Juni 2015, https://www.refworld.org/docid/555c335a4.html. UNHCR, Protection of Refugees in mass influx situations: Overall protection framework, EC/GC/01/4 vom 19. Februar 2001, https://www.unhcr.org/3ae68f3c24.html. 56 Vgl. Berichte in SPIEGEL online vom 1. März 2020, „Gespannte Lage am Mittelmeer. Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Land“, https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-bewohner-auf-lesbos- lassen-migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404. Angeblich sollen sich maskierte Bürgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben.
17

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 18 Während der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit für die Möglichkeit aus, Art. 33 GFK anlässlich eines Massenzustroms auszusetzen, wenn anderenfalls die Aufrechterhal- 57 tung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefährdet wäre. Dass die Staaten dem Wort „refouler“ eine besondere Bedeutung (i.S.d. Art. 31 Abs. 4 der Wiener Vertragsrechtskon- vention) beizulegen beabsichtigten, wonach das Refoulementverbot bei Massenzuströmen von Asylsuchenden ausgesetzt werden darf, belegen die Dokumente zu den travaux préparatoires 58 allerdings nicht. Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK keinen Niederschlag gefunden. Als ausdrückliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt Art. 33 Abs. 2 GFK lediglich: Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwer wiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet (…). Aufgrund der humanitären Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refou- lementverbots für die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als er- schöpfend angesehen werden. Die in Art. 33 Abs. 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr voraus, die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefährlichen Verhalten des jeweiligen Asylsuchenden (Terrorismus, Spionage etc.) ausgeht. Die bloße Inanspruchnahme eines Rechts kann dagegen auch dann nicht als „Gefahr“ i.S.d. Art. 33 Abs. 2 GFK betrachtet werden, wenn sie 59 von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird. Die Ausnahmeregelung in Art. 33 Abs. 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung. Dies hat das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR), deren Schlussfolgerungen für die Auslegung der GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind, deutlich gemacht: 1. In situations of large scale-influx, asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis, it should always admit them at least on a temporary basis and provide with protection to the principles set out below (...). 2. In all cases the fundamental principle of non-refoulement – including non-rejection at the frontier – must be 60 scrupulously observed. 57 Nachweise bei Kälin/Caroni/Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, Oxford University Press 2011, Art. 33 Abs. 1 Rdnr. 133 mit Fn. 363. Hathaway, James C., The Rights of Refugees under International Law, Cambridge 2005, S. 357 ff. 58 Feil, Leonard Amaru, „Der ´Massenzustrom` von Flüchtlingen aus völkerrechtlicher Perspektive“, in: ZAR 2018, S. 155-160 (157). 59 Rah, Sicco, Asylsuchende und Migranten auf See, Berlin, Heidelberg: Springer 2009, S. 205. 60 EXCOM, Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx, No. 22 (XXXII) 1981, https://www.unhcr.org/3ae68c6e10.html/. Vgl. auch UNHCR Exekutivkomitee Nr. 100 (LV) Beschluss über internationale Zusammenarbeit, Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen, https://www.refworld.org/pdfid/5db843f00.pdf
18

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 19 In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoule- mentverbot diskutiert; ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsitua- 61 tionen wird indes als unzulässig angesehen. Dieser Rechtauffassung schließt sich auch der 62 EGMR an, wenn er in der Entscheidung N.D. und N.T. gegen Spanien feststellt: “Nevertheless, the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migrato- ry flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible with the Convention or the Protocols thereto.” Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen ließe sich an eine Aussetzung des Refoulementver- bots denken – etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Flüchten- 63 den befinden, ohne dass eine Prüfung im Einzelfall möglich wäre. Auch eine invasionsartige Massenfluchtbewegung, die das wirtschaftliche Überleben eines Staates gefährdet, könnte eine solche extreme Ausnahmesituation begründen. Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-türkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht überhaupt von einer Massenflucht sprechen können, muss an dieser Stelle offen bleiben: Denn zum einen existieren kaum belastbare Angaben über die tatsächliche Zahl jener, die in dem Camp an der Grenze ausgeharrt haben. Zum anderen lässt sich eine Massenfluchtbewegung zu- mindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern – letztlich handelt es sich um eine politi- sche Einschätzung des betroffenen Staates, bei der die Gesamtumstände sowie die Größe und Leistungsfähigkeit des Staates zu berücksichtigen sind. Griechenland hat das Argument der „Massenflucht“ jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschließung ins Spiel gebracht. 5.3. Öffentlicher Notstand Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-türkischen Grenze dem Generalsekretär des Europarats gegenüber den öffentlichen Notstand i.S.v. Art. 15 EMRK 64 erklärt. Der Notstand würde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermöglichen, bestimmte EMRK- Rechte auszusetzen (derogieren). Das Refoulementverbot aus Art. 3 EMRK gehört jedoch gem. 61 Wennholz, Philipp, Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Völkerrecht, Berlin: BWV 2013, S. 282 ff. Rah, Sicco, Asylsuchende und Migranten auf See, Berlin, Heidelberg: Springer 2009, S. 205 m.w.N. Feil, Leonard Amaru, „Der ´Massenzustrom` von Flüchtlingen aus völkerrechtlicher Perspektive“, in: ZAR 2018, S. 155-160 (157). 62 EGMR, N.D. und N.T. gegen Spanien, Urteil vom 13. Februar 2020, Rdnr. 170. 63 Hathaway, James C., The Rights of Refugees under International Law, Cambridge 2005, S. 362. 64 In einem Interview vom 8. März hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl. DW vom 20. März 2020, „Asylrecht in Griechenland außer Kraft gesetzt“, https://www.dw.com/de/asylrecht-in-griechenland-au%C3%9Fer-kraft-gesetzt/a-52862008).
19

Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 20 Art. 15 Abs. 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten, die auch angesichts eines Mas- senzustroms rechtlich nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Über die Notstandsfestigkeit des Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung keinen 65 Dissens. Die Staatenpraxis zeigt, dass Staaten Flüchtlingsbewegungen ganz anderer Größenordnungen 66 bewältigt und Grenzschließungen in der Regel nur als Präventionsmaßnahme gegen den wirt- 67 schaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgeführt haben. Andererseits lässt sich – soweit ersichtlich – keine konsistente Staatenpraxis ausmachen, wonach Staaten gegen Grenzschließungen anderer Staaten angesichts einer Situation des drohenden Massenzustroms völkerrechtlich protestieren. Doch wird der ausbleibende Protest 68 vielfach politisch motiviert sein. 5.4. Corona-Pandemie Die Corona-Pandemie überlagert derzeit die Bemühungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung 69 der humanitären Notlage an der türkisch-griechischen Grenze. Aus nachvollziehbaren Gründen kaum erörtert ist die Frage, ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle Corona-Pandemie) Staaten berechtigt, ihre Grenzen zu schließen und das Asylrecht auszusetzen. Mit Blick auf die Situation an der griechisch-türkischen Grenze bleibt festzuhalten, dass die Maßnahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzo- gen wurden (nämlich Ende Februar 2020), bevor der „Covid-19“-Ausbruch am 12. März 2020 von 65 Vgl. insoweit EGMR (GK), Urteil vom 15. November 1996, Beschwerde Nr. 22414/93 – Chahal gegen Großbri- tannien. Progin-Theuerkauf, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, München: Beck, 2. Aufl. 2020, § 20 Rdnr. 14. Lehnert, Matthias, „Die Herrschaft des Rechts an der EU-Außengrenze?“, VerfBlog vom 4. März 2020, https://verfassungsblog.de/die-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze/. 66 UNHCR, Zahlen & Fakten zu Menschen auf der Flucht, https://www.uno- fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen/. 67 FR vom 20. August 2018, „Venezuelas Nachbarn machen die Grenzen dicht“, https://www.fr.de/politik/venezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388.html. 68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der türkisch-griechischen Grenze im März 2020 wurde hauptsächlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert, während sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zurückhiel- ten. 69 DW vom 19. März 2020, „Corona setzt Flüchtlingskinder fest“, https://www.dw.com/de/corona-setzt- fl%C3%BCchtlingskinder-fest/a-52845534.
20

Zur nächsten Seite