Ruanda_Deutsche_Entwicklungszusammenarbeit_Hauptber_2016_0303467.pdf

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Gutachten zu deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda

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31 schaftiiche Niedergang hat zu einer Zunahme der Armut geführt die jetzt auf mehr als 70% der Bevölkerung geschätzt wird. Haupt- verursacher hierfür waren Stagnation und Niedergang der Land- wirtschaft die, wie vermerkt die Haupteinkommensquelle für mehr als 90% der Bevölkerung darstellt In den Städten ist die Arbeitslo- sigkeit angestiegen, und die realen Löhne, insbesondere für Bedien- stete des Staates, sind zurückgegangen, die Armut hat folglich zuge- nommen. b) Konvivium von Mitgliedern der Opfer- und der Tätergruppen: Zum anderen ist die soziale Situation durch ein in der menschlichen Geschichte möglicherweise einzigartiges Phänomen gekennzeichnet Nach einem in seinen Dimensionen furchtbaren Völkermord (seit dem Zweiten Weltkrieg dürften nur die Zahlen der Opfer noch des späten Stalin und seiner unmittelbaren Nachfolger, der Hungertoten des „Großen Sprungs nach vom" in China [ca. 30 Mio.] und der „killing fields" in Kambodscha größer gewesen sein als die der Op- fer in Ruanda) versuchen Hutu wie Tutsi, die sich beide als Opfer fühlen, emeut zu einem modus vivendi im sozialen Bereich zu kommen. Nach dem Völkermord an den Armeniern wurde von der intemationalen Gemeinschaft immerhin ein eigener Staat für die Armenier gebildet (er hatte bekannüich keinen Bestand), nach der Judenvemichtung durch die Nazis ein Staat Israel gegründet nach dem Massenmord in Kambodscha wurden Hunderttausende Kam- bodschaner in andere Länder umgesiedelt in Bosnien ist es de facto zu einer ethnischen Separation gekommen. Das Ruanda nach dem Genozid befindet sich auf einem anderen Weg: Die beiden Großgruppen stellen Ruanda als Staat grundsätz- lich nicht in Frage. Zum ersten Mal seit 35 Jahren ist die überwälti- gende Mehrheit der ruandischen Flüchtiinge aus dem Ausland zu- rückgekehrt Eine geographische Trennung des Landes wird (noch?) nicht ernsthaft diskutiert Das Land versucht auch im sozialen Be- reich, mit den Folgen des Völl:ermordes fertig zu werden Praktisch alle Sozialindikatoren sind erschreckend schlecht; ohne die massive Hilfe des Auslandes wären sie vermutiich verzweifelt
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32 c) Zur Bevölkerungsentwicklung Auf die beunruhigende Bevölkerungsentwicklung wurde bereits verwiesen. Die geschätzte Gesamtbevölkerungszahl des Landes von nahezu 8 Mio. Menschen ist nicht geringer als vor dem Genozid, nach einigen Informationen sogar höher. Die hohe Zahl der ermor- deten Menschen ist also durch Repatriierung von Altflüchtiingen zahlenmäßig mehr als ausgeglichen worden. Daß dieses schnelle Be- völkerungswachstum (dem Vernehmen nach soll es in den noch be- stehenden Flüchtlingslagem noch höher sein als im Durchschniti) ohne massivstes wirtschaftliches Wachstum oder die Möglichkeit ei- ner massenhaften Emigration auf Dauer zu untragbaren Verhältnis- sen führen wird, ist offensichtiich. Die Regienmg bemüht sich dar- um, das Familienplanungssystem wieder aufzubauen, überall wer- den Sensibilisienmgskampagnen durchgeführt doch bisher ohne großen Erfolg. („The government" has started to train health wor- kers in clinical family planning skills, and educate opinion leaders on demographic issues but there is yet no impact"; World Bank, Country Assistance Strategy, 19.3.98, S. 12) Hinsichtiich der Fertilität gibt es über die doch sehr breite Altersspanne der 20- bis 40-jährigen Frauen hinweg kaum Unterschiede zwischen den Altersgruppen, auch gibt es kaum Unterschiede zwischen Frauen mit und ohne Schulbildung, d.h. Frauen mit Sekundär- und Hochschulausbildung haben derzeit kaum niedrigere Geburtenzahlen als Frauen ohne Schulbildung. Dies dürfte international einmalig sein; die den Gut- achtem begegnete Interpretation, die eine Gruppe wolle ihren hohen Anteil an der Gesamfbevölkerung nicht verlieren, die andere Grup- pe ihre Verluste während des Völkermordes ausgleichen, scheint wenig überzeugend, da man ein Durchschlagen eines Gruppeninter- esses auf die individuelle Entscheidung zur Zeugung eines Kindes annehmen müßte, was mindestens sehr zweifelhaft ist. Im übrigen ist die Geschlechterbalance des Landes durch den Völ- kermord aus dem Gleichgewicht Auf 100 Frauen kommen nur 84 Männer, in der Altersgruppe 24 bis 29 Jahre sogar nur 67. Ein Drittel aller Haushalte wird von Frauen geleitet.
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33 d) Soziale Dienste: Grundlegende soziale Dienste sind notorisch schlecht Insbesondere mangelt es an ausreichender Gesundheitsvorsorge und Krankheits- behandlung. Dies hat unter anderem mit der ländlichen Sied- lungsstruktur zu tun (das Land ist mit Burundi, das am wenigsten urbanisierte Land in Afrika, einem Kontinent der bekanntiich der am wenigsten urbanisierte Erdteil ist sieht man vom südasiatischen Subkontinent ab). Krankenhäuser arbeiten nur unter Schwierigkei- ten, es fehlt an geschultem Personal, auch medizinische Hilfsmittel sind ungenügend und wären es ohne massive ausländische Assi- stenz noch mehr. Die Verbreitung von Aids ist kürzlich auf 11,1% der erwachsenen Bevölkerung, davon 11,6% in den Städten und 10,8% auf dem Lande, geschätzt worden. Insbesondere für die ländlichen Regionen ist das eine erhebliche Zunahme; dort wurde das Vorkommen 1986 nur auf 1,3% geschätzt Frauen zwischen 20 und 35 Jahren seien zu 20% in- fiziert Die Weltbank gibt an, daß bereits 12- bis 14-jährige eine In- fektionsrate von 4,1% haben und daß Aidswaisen auf dem Lande von ihren Familien, nicht vom öffentiichen Gesundheitswesen ver- sorgt werden. - Simulationsrechnimgen zeigen auch für den „worst case"-Fall, daß Aids keine erhebliche Reduktion des Bevölke- rungswachstums und keine leerstehenden Schulen zur Folge haben wird. - Malaria hat unter anderem als Folge der Zunahme der Anophe- lesmücke wegen reichlicher Regenfälle seit Herbst 1997, nach ver- schiedenen Auskünften erheblich zugenommen; die Prophylaxe der Bevölkerung ist ungenügend. Die Liste könnte verlängert werden; die zusammenfassende Feststellung möge genügen, daß der Ge- sundheitszustand der Bevölkerung zu wünschen übrig läßt Ende 1997 war es gelungen, praktisch alle vor dem Krieg existie- renden Gesundheitszentren wieder zu öffnen. Die Zugänglichkeit der Gesundheitsdienste ist dabei ein Hauptproblem: 30% der Ge- sundheitszentren, nach einer Armutsstudie der Weltbank, schätzen, daß ihre Patienten im Durchschnitt mehr als zwei Stunden laufen müssen, um zum Zentrum zu gelangen. Die Bevölkerung insgesamt findet folgende Faktoren, nach derselben Quelle, besonders proble-
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34 matisch: Fehlen von Medikamenten in den Gesimdheitszentren, Fehlen von Personal und Fehlen von Transportmöglichkeiten für Schwerkranke; Diese Einschätzung wurde von Direktoren der Ge- sundheitszentren bestätigt die unterschiedlich lange Schließungszei- ten der Gesundheitszentren aus Mangel an Mitteln hinzunehmen hatten. Obwohl im Jahre 1997 das Gesundheitsbudget der Regienmg zu fast 86% aus ausländischen Quellen kam, stellen die Cesimd- heitskosten für den durchschnittiichen Haushalt (5,4% des Jahres- einkommens oder zwischen 2.700 und 3.700 ruandischen Francs) ei- ne schwere Zugangsbarriere dar. e) Ausbildungssituation: Die Ausbildungssituation der Bevölkerung ist ebenfalls ungenü- gend. Dies sei an zwei Indikatoren gezeigt - Nach der im Jahr 1996 durchgeführten Enquête Socio-Démogra- phique, deren vorläufige Auswertung im Januar 1998 vorgelegt wurde, können nur 51,6% der Männer und 44,8% der Frauen le- sen und schreiben (insgesamt 47,8%); weitere 3,4% der Männer und 3,7% der Frauen geben an, lesen, aber nicht schreiben zu können. Unter der (plausiblen) Annahme, daß sich der Anteil der alphabetisierten Menschen unter den im Herbst 1996 massenhaft zurückgeströmten Flüchtiingen nicht anders verhält kann festge- stellt werden, daß Ruanda auch nach Jahrzehnten der Unabhän- gigkeit und zahlreichen Bemühungen der intemationalen Ge- meinschaft zur Förderung des Erziehungswesens noch immer zu mehr als der Hälfte analphabetisch ist. Immerhin kann angemerkt werden, daß in der Altersgruppe 15 bis 29 Jahre etwas mehr als 70% der Befragten angaben, sowohl lesen als auch schreiben zu können. - Nach der gleichen Quelle haben 34,5% aller Ruander keinerlei formale Erziehung, 59,6% haben nur die Primarschule besucht wobei hierbei (die Statistiken sind unklar) ein hoher Anteil von unvollständigen Primarschulkarrieren zu vermuten ist. Nur 3,9% der Ruander von mehr als 6 Jahren (so tatsächlich die Statistik) geben eine (wiederum voUständige oder unvollständige) Sekun- darschulausbildung, nur 0,2% eine Hochschulausbildung an (Postprimarausbildimg: 1,7%)
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35 f) Wohnsituation: Die Wohnsituation gilt als nach wie vor unbefriedigend, obwohl, wie an anderer Stelle dieses Berichtes ausgeführt wird, zahlreiche neu gebaute Wohnungen leer stehen. Mit intemationaler Hilfe sind mehr als 100.000 Wohnungen bzw. Häuser errichtet worden, doch wird immer noch von ruandischen Regierungsbeamten angegeben, dciß schätzungsweise 400.000 Wohnungen (etwa ein Vierteil des Be- standes) entweder ganz neu gebaut oder doch repariert werden müssen, um Flüchtiinge und Überlebende des Genozids zu beher- bergen. Die Tatsache, daß Häuser leer stehen, steht dem nicht un- bedingt entgegen. Wenn Häuser leer stehen, haben sie in den Augen der möghchen Bewohner Nachteile, sind also für Wohnzwecke sub- jektiv nicht geeignet. Daß etwa ein Drittel der Haushalte von Frauen geleitet wird, die der Natur der Sache nach kaum schwere Arbeiten wie den Hausbau bewältigen körmen, macht Selbsthilfemaßnahmen gerade bei diesen verwundbaren Gruppen schwierig, wenn nicht unmöglich. g) Lage der zurückgekehrten Flüchtiinge: Der Vollständigkeit halber sei auf die schwierige Situation vieler zu- rückgekehrter Flüchtiinge verwiesen. Sie wird ausführlich im Zu- sammenhang mit einer Diskussion zum Projekt Reintegration von Flüchtlingen zu erörtern sein. Besonders schwierig ist die Lage für Angehörige der intellektuellen Hutuelite, die in das Land zurück- gekehrt sind und die größten Schwierigkeiten haben, eine ihrer Ausbildung entsprechende Anstellung zu finden. Es gibt Beispiele dcifür, daß sie von Tutsiradikalen verfolgt werden oder, um dieses zu vermeiden, auf entiegene Hügel auszuweichen versuchen, was ihre im Lande so dringend benötigten intellektuellen Talente selbst- verständlich brachliegen läßt. h) Soziale, regionale und ethnische Scheidung Daß die Hutu-Tutsiproblematik das alles überragende gesellschaftii- che Problem Ruandas ist ist ein Gemeinplatz. Alle Versuche, diese Grundtatsache durch kluge Überlegungen hinsichtiich des Nachwei- ses, daß die Kategorisierungen „Ethnizität", „Rasse", „Klasse", „Kultur" oder „Religion" nicht paßten und der Hutu-Tutsi-Gegen-
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36 satz daher wegeskomatiert werden soll, sind zum Scheitern verur- teilt. Selbstverständlich: Ruandas Gesellschaft mit verschiedenen, sich vielfach überschneidenden Kriterien von Status und sozialer Zugehörigkeit ist ein Beispiel für die Vielgestaltigkeit und Mehr- deutigkeit etiinischer und sozialer Identitäten. Sicher ist es auch richtig, daß die sozialen Identitäten Hutu und Tutsi nur noch wenig Ursprung und stark Resultat der jüngsten Geschichte sind, doch verbinden Hutu und Tutsi unter sich gewisse gemeinsam erlebte hi- storisch ähnliche Lebensbedingungen. Hutu wie Tutsi haben die jüngsten Momente der ruandischen Geschichte dramatisch unter- schiedlich erlebt und ziehen daraus ihre Identitäten: 1959 bis 1961 die „soziale" Revolution mit Flucht der Tutsioberschicht ins Aus- land, 1973 die Massaker an Tutst gefolgt vom Habyarimanaputsch; 1960 bis 1990 die Benachteiligung der Tutsi in Staatsstellen und im Erziehungswesen, 1990 den Angriff der FPR aus Uganda, 1994 den politischen Massenmord, gefolgt vom Völkermord an Tutsi, 1994 die auf den Genozid erfolgten Racheakte der von Tutsi dominierten Armee an Hutu, 1996/7 die Massaker an Hutuflüchtiingen im Ostza- ire und die Tötung von Hutuzivilisten in der Präfektur Ruhengeri. Solche historisch unterschiedlichen Erfahrungen können nicht an- ders als polarisierend wirken - und dafür gibt es auch im Jahre 1998 massive Anzeichen: - Mindestens im Nordwesten des Landes reicht nach wie vor die unterschiedliche Gruppenzugehörigkeit aus, um individuellen oder kollektiven Mord zu provozieren. Terroristische Überfälle auf Tutsifamilien, etwa von ehemaligen Angehörigen der alten Armee, FAR, und der Interahamwe, provozierten ebenso undiffe- renzierte Gegenaktionen der Armee, die wenigstens in Teilen ge- neigt ist alle Hutu als ehemalige Völkermörder zu betrachten. Es gibt Hinweise darauf, daß bestimmte Kategorien von zurückge- kehrten Flüchtlingen, z.B. ehemalige Beamte, Intellektuelle und Offiziere der alten Armee, in aller Stüle durch die gegenwärtige Regierung umgebracht werden, sobald sie nach Ruanda zurück- kehren. In anderen Fällen versuchen Völkermörder, die zurück- gekehrt sind, Zeugen, die sie erkennen könnten, zu töten, bevor eine Anzeige bei den Behörden gelingt. Selbst von der gegenwär-
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37 tigen Regierung ausgewählte Verwaltungsbeamte, die Hutu sind, riskieren eüie Drangsalierung durch die Sicherheitskräfte. Zwischen den zurückgekehrten Flüchtiingen und der gegenwär- tigen Regierung ist das psychologische Klima vergiftet Viele Rückkehrer leugnen bis heute, daß es zu einem systematischen Völkermord gekommen ist und verweisen statt dessen auf einen „Krieg". Das Thema ermordeter Frauen und Kinder wird nicht erörtert - und paradoxerweise mit dem Hinweis auf den „Krieg" die Existenz der Morde sowohl zugegeben als auch geleugnet. Auf der anderen Seite handeln die Tutsi, zumindest soweit sie den Sicherheitskräften angehören, so als ob alle Hutu des Völ- kermordes schuldig wären. Im persönlichen Leben herrscht selbst in den Städten, Aussagen von Ruandem zufolge, eine tiefe Venmsicherüng bei der Kontakt- aufnahme mit der jeweils anderen Gruppe. Befindet sich ein Ru- ander in einer ihm unbekannten sozialen Umgebung, wird er vorsichtig sein und keinerlei Äußerung oder Geste machen, die ihn bei der jeweilig anderen Gruppe kenntiich oder unbeliebt ma- chen könnte. Man geht erst dann aus sich heraus, wenn man weiß, daß der oder die Gesprächspartner der eigenen Gruppe angehö- ren, sonst verhält man sich vorsichtig-abwartend, um nicht kom- promittiert werden zu körmen. Jeder Ruander ist im übrigen im- stande, mit ein wenig Bemühung die Identität des Gesprächspart- ners nach einiger Zeit festzustellen. Es gibt Hinweise darauf, daß es eine massive Benachteiligung der Hutu im öffentlichen Dienst im Militär, im Erziehungswesen und bei der Vergabe von Auslandsstipendien gibt. Eine ruandische Mitarbeiterin einer intemationalen Hilfsorganisation berichtete z.B., daß 90% der angebotenen ausländischen Praktikantenplätze von der Regierung mit Tutsi besetzt würden. Die intellektuelle Elite der Hutu ist als solche weitgehend ausge- schaltet; es wird geschätzt daß ein Drittel von ihr beim Völker- mord, beim Eroberungskrieg der FPR und bei deren Repressalien umgebracht wurde, daß ein Drittel wegen Mordes im Gefängnis sitzt und daß nur ein Drittel viele davon mit Tutsi verheiratet noch aktiv sind.
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38 - Die massiven Bevölkerungsverschiebungen und Bevölkerungs- veränderungen seit 1950 haben zu einer noch stärkeren Dichoto- misienmg von Raum und Wirtschaft geführt. Bereits vor 1990 wa- ren die Tutsi in den Städten stärker vertreten, als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach. Diese Tendenz hat sich verstärkt zumal die Masse der zurückgekehrten Tutsialtflüchüin- ge in die Städte strömte und dort den Großteil der Liegenschaften, kleinen Geschäfte und kleinen Fabriken übernahm. Das Resultat ist eine dichotomisierte Wirtschaft mit den Hutu auf dem Lande, die Subsistenzlandwirtschaft betreiben, und einer monetarisierten städtischen Wirtschaft, die praktisch vollständig in den Händen der Tutsi ist. Dies hat übrigens auch Folgen für das politische Sy- stem, die an anderer Stelle zu diskutieren sind. Jedenfalls genügt es, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß die gegenwärtige Tutsidominanz sozial gesehen mit der alten Tutsidominanz vor 1959 so gut wie rtichts zu tun hat - Zwischen diesen beiden Gruppen stehen die Tutsiüberlebenden des Völkermordes in ihren „neuen Dörfern" entiang der Straßen, die, wie an anderer Stelle auszuführen sein wird, ohne Hilfe von außen ökonomisch nicht lebensfähig sind, die übrigens auch ei- nerseits aus Sicherheitsgründen (weg von der Vereinzelung) ge- schätzt werden, auf der anderen Seite ftir die radikalen Hutu bei einem befürchteten weiteren Völkermord ein leichtes Ziel abge- ben werden. Die simple Dichotomie „Hutu-Tutsi" stellt selbstverständlich eine unhaltbare Vereinfachung einer höchst komplexen sozialen Situation dar. i) Zur Sozialstruktur Ruandas insgesamt Einem Positionspapier einer befreundeten Gebemation entnehmen wir (etwas verändert) folgende sechsfache soziale Trennung: 1. Bis zu 500.000 Tutsiüberlebende, die während des Genozids im Lande gewesen waren, darunter viele Ackerbauern. Sie haben im Genozid Verwandte verloren und sind deshalb voll Angst und Wut gegen die kürzlich zurückgekehrten Hutu. Diese Gruppe fühlt sich vom Staat nicht genügend unterstützt; auf ihr Konto ge-
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39 hen viele Erpressungen, Denunziationen und Racheakte gegen Hutu. Allerdings nehmen die Spannungen ab, weil der Alltag und die vergehende Zeit versöhnen. 2. Die ca. 750.000 bis 800.000 Tutsi aus der Diaspora, viele darunter Söhne und Töchter von Verwaltimgsbeamten der belgischen Pro- tektoratszeit die einen sind aus Uganda zurückgekommen, ande- re aus Burundi, wieder andere aus Europa und Nordamerika, die sich seit 1994 weitgehend entiang der Hauptstraßen und in den Städten niedergelassen haben. Diese Gruppe glaubte, ins gelobte Land zurückzukehren, ist anspruchsvoll und teilweise wohl auch enttäuscht von der neuen Regierung, über den Mangel an Res- sourcen und Arbeitsplätzen. Wenige der Diasporarückkehrer ha- ben im Genozid Verwandte verloren; folglich gelten die Ressen- timents dieser Gruppe weniger der sozialen Kategorie der Hutu an sich als vielmehr der Armeefühnmg und der Regierung des alten Ruanda, welche verantwortlich für ihr dreißigjähriges Exil gewesen war. 3. Mit der Führungsgruppe Kagame, Karemera, Bihozagara und an- deren haben sich in Ruanda die Nachkommen der traditionellen Tutsielite wieder ins Zentrum der Staatsmacht gebracht (Kagames Mutter beispielsweise gehört zum Begaklan, dem Klan der alten Tutsiköniginnen; ihre Schwester war die Frau des vorletzten Tut- sikönigs!). Die Führungsschicht in Kigali denkt republikanisch, international, ist in keiner Region von Ruanda verankert hier geht es weniger um Hutu oder Tutsi, sondern darum, an der Regie- rung zu verbleiben. Sie benutzt die kriminelle Politik des MRND, d.h. den Massenmord an Tutsizivilisten, weiterhin als politisches Werkzeug zu ihrer eigenen Legitimation. Zur Politik siehe im üb- rigen den Abschnitt III über die gegenwärtigen politischen Hauptprobleme. 4. Die zahlerunäßge Mehrheit der etwa fünf Millionen Hutubauem hat das Land nie verlassen; sie scheinen sich mit Ausnahme der Heimatgemeinden des Habyarimanaklans in Gisenyi und Ruhen- geri wenig darum zu kümmern, ob Hutu oder Tutsi die Steuern für Kigali erheben. Zwischen ihnen und den verschiedenen Gruppen der Tutsi gab es in den vergangenen drei Jahren wenig
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40 Spannungen. Diese Gruppe hatte nicht Angst vor den Tutsi als solchen, fürchtet sich aber vor der selbstherrlichen Armee, der sie oft genug schutzlos ausgeliefert ist. 5. 1996/97 kehrten rund 1,5 Millionen Hutu aus Burundi, Zaire und Tansania zurück. Sie hatten drei Jahre in Lagern verbracht wo das Erscheinen eines Tutsi Grund für eine Lynchdrohung war. Zwischen dieser Hutugruppe und den Tutsialtflüchtiingen gibt es zur Zeit landesweit schwere Spannungen und Konflikte um Land- besitz. Die Polarisierung ist hoch, eine Tendenz schwer abzu- schätzen. 6. Die Hutu in Regierung, Parlament und Administration des neuen Ruanda sind mehrheitiich Hutu aus dem Süden und dem Zen- trum. Sie sind vollständig von FPR und Armee abhängig, um in ihren Posten zu verbleiben. Die meisten von ihnen, darunter eini- ge Muslime, sind mit Tutsi verheiratet wollen nichts mit dem „ethnischen Unsinn" zu tun haben und sind (wie alle Tutsi in Ru- anda) strenge Verfechter der Verbannung der Wörter „Hutu" und „Tutsi" aus dem Sprachgebrauch. Der Vollständigkeit halber sollte noch hinzugefügt werden: ^ 7. Die Gruppe der ausländischen Diplomaten, Entwicklungshelfer und Experten, deren Autos, Geld und Dienste von der herrschen- den Regierung als selbstverständlich beansprucht und als Bring- schuld angesehen werden. Wie schon das alte Ruanda kann das neue Ruanda als „over-aided" angesehen werden, wird jedes Ver- sagen der eigenen Anstrengungen durch irgendeinen privaten oder öffentlichen Geber aufgefangen, findet noch der abartigste Unsiim einen ausländischen Financier. (Über die unbeabsichtigt unheilvolle Rolle der intemationalen Entwicklimgshilfe nach 1987 wurde schon an anderer Stelle berichtet) Dabei ist diese Gruppe keineswegs homogen, sind die politischen Interessen der ver- schiedenen Gebemationen und intemationalen Organisationen deutlich unterschiedlich, teilweise einander diametral widerspre- chend.
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