Sehr Antragsteller/in
vielen Dank für Ihre Nachricht vom 24. Mai 2021, die ich als Bürgeranfrage auffasse, denn Sie bitten darin um Beantwortung von Rechtsfragen. Das Informationsfreiheitsgesetz hingegen gewährt einen Anspruch auf Zugang zu in den Akten vorhandenen amtlichen Informationen.
Zu der von Ihnen aufgeworfenen Thematik teile ich Ihnen ganz allgemein Folgendes mit:
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Gerichte sämtlicher Gerichtszweige besteht grundsätzlich eine Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen. Diese wird aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung abgeleitet (vgl. BVerfG NJW 2015, 3708, 3710; BVerwGE 104, 105, 108 ff.; BGH, Beschluss vom 5. April 2017 – IV AR (VZ) 2/16 –, NJW 2017, 1819 Rn. 16). Gerichtliche Entscheidungen konkretisieren die Regelungen der Gesetze und bilden das Recht fort. Schon von daher kommt der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen eine der Verkündung von Rechtsnormen vergleichbare Bedeutung zu. Die Bürgerinnen und Bürger sollen die Möglichkeit haben, zuverlässig in Erfahrung zu bringen, welche Rechte sie haben und welche Pflichten ihnen obliegen.
Maßgeblich für die Frage, ob eine Entscheidung zu publizieren ist, sind dabei das tatsächliche oder mutmaßliche Interesse der Öffentlichkeit und das Interesse derjenigen, die in entsprechenden Angelegenheiten um Rechtsschutz nachsuchen wollen. Die Veröffentlichung von Urteilen findet allerdings durch das aus dem Persönlichkeitsrecht abgeleiteten Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG) seine Grenzen. Deswegen sind zu veröffentlichende Gerichtsentscheidungen zu anonymisieren. Soweit Rechte der an einem Rechtsstreit Beteiligten trotz Anonymisierung verletzt sein können, kann dem im Einzelfall durch die Schwärzung von Urteilspassagen, die über die übliche Anonymisierung hinausgeht, oder sogar durch einen Ausschluss der Veröffentlichung Rechnung getragen werden. Darüber hinaus können auch weitere Gründe einer Veröffentlichung entgegenstehen, insbesondere solche Gründe, die zu einem Ausschluss der Öffentlichkeit von der Verhandlung und der Urteilsverkündung führen können, zum Beispiel, wenn eine Gefährdung der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung oder die Gefährdung von Leben, Leib oder Freiheit einer Zeugin oder eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen wäre oder zum Schutz bestimmter Geheimnisse, durch deren öffentliche Erörterung überwiegende schutzwürdige Interessen verletzt würden.
Anfragen privater Dritter, die an dem Verfahren nicht beteiligt sind, die Entscheidung zu veröffentlichen oder eine Entscheidungsabschrift zur Verfügung zu stellen, belegen regelmäßig ein öffentliches Interesse. Allerdings obliegt es der für die Entscheidung über die Veröffentlichung zuständigen Gerichtsverwaltung selbständig darüber zu entscheiden, ob im jeweiligen Einzelfall die Voraussetzungen für eine Veröffentlichung vorliegen.
Zu der von Ihnen angesprochenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 5. April 2017 (Az. IV AR (VZ) 2/16, NJW 2017, 1819), die sich mit der Überlassung anonymisierter Entscheidungsabschriften befasst, ist folgendes anzuführen:
Im Zivilverfahren und im Verfahren der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit folgt aus der Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen für Privatpersonen, die nicht am Verfahren beteiligt sind, ein Anspruch auf Überlassung anonymisierter Entscheidungsabschriften. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind die Gerichte in Zivilverfahren grundsätzlich verpflichtet, einem Verlangen auf Überlassung einer anonymisierten Abschrift einer gerichtlichen Entscheidung zu entsprechen, wenn ein öffentliches Interesse an der Überlassung besteht und nicht ausnahmsweise unabweisbare höhere Interessen die Unterrichtung verbieten (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2017 – IV AR (VZ) 2/16, NJW 2017, 1819 Rn. 18). Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Mitteilung einer anonymisierten Entscheidungsabschrift in Ausnahmefällen verweigert werden kann.
In Strafverfahren sind bei der Zurverfügungstellung von anonymisierten Entscheidungsabschriften in besonderem Maße die aus dem Persönlichkeitsrecht abgeleiteten Rechte der Verfahrensbeteiligten auf informationelle Selbstbestimmung zu berücksichtigen. Diese können auch durch die Übermittlung einer anonymisierten Abschrift von Entscheidungen beeinträchtigt sein. Insbesondere Strafurteile enthalten teilweise bis in den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts hineinreichende Angaben über die verurteilte Person, Opfer der Straftat oder über das Tatgeschehen selbst, bei denen kaum je auszuschließen ist, dass ein Personenbezug trotz Anonymisierung hergestellt werden kann. Die Überlassung anonymisierter Entscheidungen an private Dritte richtet sich daher nach § 475 der Strafprozessordnung (StPO). Diese Vorschrift ermöglicht, die Persönlichkeitsrechte und die Informationsinteressen außenstehender Personen gegeneinander abzuwägen. Sie erlaubt es, dass Auskünfte aus den Akten – dazu zählt auch die Überlassung anonymisierter Entscheidungen - an nichtverfahrensbeteiligte Privatpersonen nach pflichtgemäßem Ermessen erteilt werden, sofern hierfür ein berechtigtes Interesse dargelegt wird; sie sind zu versagen, wenn der Betroffene hieran ein schutzwürdiges Interesse hat. Auch im Strafverfahren kann es daher erforderlich sein, die Übermittlung einer anonymisierten Entscheidungsabschrift zu verweigern.
Neben den Ansprüchen, die sich aus der grundsätzlich bestehenden Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen ergeben können, ist hinsichtlich der Veröffentlichung von Entscheidungen der Bundesgerichte auch das IFG zu berücksichtigen. Bei der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen handelt es sich um eine Tätigkeit, die nicht mehr der Rechtsprechung als solches zuzuordnen ist. Vielmehr handelt es sich um eine typische Aufgabe der Justizverwaltung, womit das IFG nach § 1 Absatz 1 Satz 2 IFG grundsätzlich anwendbar ist. Für das IFG gilt ein weites, funktionales Behördenverständnis.
Gem. § 1 Absatz 3 IFG gehen Regelungen in anderen Rechtsvorschriften über den Zugang zu amtlichen Informationen dem IFG vor. Hierunter fallen z. B. die Vorschriften der StPO zum Akteneinsichtsrecht, wie § 475 StPO, die in ihrem Anwendungsbereich abschließende Spezialvorschriften darstellen (Näheres zu § 475 StPO siehe bereits oben). Hier findet das IFG keine Anwendung.
Ist das IFG anwendbar, begründet es einen (materiellrechtlich) voraussetzungslosen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen bei Bundesbehörden. Der Anspruch besteht jedoch nicht ausnahmslos; entgegenstehende öffentliche Belange oder private Interessen Dritter können von einem solchen Gewicht sein, dass sie den Zugang zu amtlichen Informationen hindern. Vor diesem Hintergrund enthält das IFG in den §§ 3 bis 6 zahlreiche Ausnahmetatbestände.
Die beiden Ansprüche – einerseits auf Grundlage der dargelegten gerichtlichen Publikationspflicht bzw. andererseits nach dem IFG - stehen unabhängig nebeneinander. Im Regelfall werden sie zu denselben Ergebnissen gelangen. Das IFG begründet dabei keine Besonderheiten oder Ausnahmen im Hinblick auf die dargelegte gerichtliche Publikationspflicht.
Auf die Veröffentlichung von Entscheidungen der Landesgerichte findet das IFG keine Anwendung. Hier kann ggf. ein Anspruch nach dem jeweiligen Landes-Informationsfreiheitsgesetz bestehen.
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Auskünften behilflich gewesen zu sein.
Mit freundlichen Grüßen