Sehr << Antragsteller:in >>
vielen Dank für Ihre Anfrage vom 5. Dezember 2023, mit der Sie Folgendes wissen möchten:
"Definition des Begriffs "Kindeswohl"
Nach den Vorgaben des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) handelt es sich nicht um eine IFG-Anfrage. Deshalb erhalten Sie keinen Bescheid. Gerne möchten wir aber Ihre Bürgeranfrage beantworten:
„Das Kindeswohl ist ein zentraler Bezugspunkt im Familien- sowie Kinder- und Jugendhilferecht. Dem § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (im Folgenden: BGB) ist ein Begriffsverständnis für das Kindeswohl und die Kindeswohlgefährdung zu entnehmen, an dem sich die übrigen Gesetze und damit auch die Vorschriften der Kinder- und Jugendhilfe im Achten Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) orientieren.
Das Familiengericht wird nach § 1666 BGB ermächtigt, Maßnahmen zu ergreifen, wenn eine Gefährdung für das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes oder für sein Vermögen vorliegt und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwehren. Das Kindeswohl ist im Gesetz nicht näher definiert. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen nähere Bestimmung in Negativabgrenzung zum Begriff der Kindeswohlgefährdung erfolgt. Mit anderen Worten: Das Kindeswohl ist sichergestellt, wenn keine Gefährdung festzustellen ist. Laut Bundesgerichtshof sind relevante Gesichtspunkte zur Ermittlung des Kindeswohls, die Erziehungseignung der Eltern, die Bindungen des Kindes, die Prinzipien der Förderung und der Kontinuität sowie die Beachtung des Kindeswillens. Diese Kriterien stehen nicht kumulativ nebeneinander. Ihre Gewichtung beurteilt sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls (BGH, Beschluss vom 15.06.2016 - XII ZB 419/15). Den Eltern kommt bei der Interpretation der Kindesinteressen aufgrund des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG ein Vorrang zu, der vom Staat zu berücksichtigen ist (BGH, Beschluss vom 28.04.2010 - XII ZB 81/09). Darüber hinaus ist dem im Grundgesetz verankerten Erziehungsziel, die Entwicklung des Kindes „zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ zu fördern, bei der Kindeswohlermittlung Rechnung zu tragen (BVerfG FamRZ 2008, 1737, 1738).
Die Kindeswohlgefährdung bildet die Eingriffsschwelle für die bereits erwähnten familiengerichtlichen Maßnahmen nach § 1666 BGB und für die Inobhutnahme des Kindes durch das Jugendamt nach § 8a i.V.m. § 42 SGB VIII. Der Gefährdungsbegriff ist unbestimmt und ergeht als Prognoseentscheidung. Hierfür findet eine umfassende Abwägung aller gegebenen Umstände und Interessen statt. (BGH FamRZ 2017, 212, 213). Eine pauschale Bewertung einzelner Verhaltensweisen der Eltern, die stets eine Kindeswohlgefährdung hervorrufen, ist daher nur schwer möglich. Zudem besteht die Gefahr des Widerspruchs zur im Gesetz geforderten Einzelfallgerechtigkeit.
Die Rechtsprechung hat in der Vergangenheit einzelne Kriterien zur Feststellung einer Kindeswohlgefährdung entwickelt. Diese liegt demnach vor, „wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist“ (BGH FamRZ 1956, 350). Die besorgende Gefährdung muss schwerwiegend und nachhaltig sein (BVerfG FamRZ 1982, 567, 569). Nicht ausreichend sind daher der bloße Verdacht der Gefährdung (LG Köln FamRZ 1992, 712 f.) oder Zweifel an der Erziehungseignung beziehungsweise der fehlende Nachweis der Erziehungseignung seitens der Eltern selbst (OLG Köln FamRZ 2015, 1904, 1905). Die Kindeswohlgefährdung muss objektiv vorliegen und setzt somit kein Verschulden der Eltern voraus - selbst wenn sie auf ein Handeln oder Unterlassen der Eltern zurückzuführen ist (OLG Brandenburg NJW-RR 2009, 1087; OLG Hamm FamRZ 2009, 1753 f.).
Nach Maßgabe dieser Kriterien bildet Gewaltanwendung und die dadurch entstehende Gesundheitsgefährdung den klassischen Fall der Kindeswohlgefährdung. Ein Kind hat Recht auf eine gewaltfreie Erziehung (§ 1631 Abs. 2 S. 1 BGB). Deshalb indizieren körperliche und seelische Schädigungen aufgrund von physischer, sexualisierter aber auch psychischer Gewaltanwendung eine Kindeswohlgefährdung. Dazu gehören neben den nach dem Strafgesetzbuch strafbaren Handlungen auch die Gewaltanwendung in Form von Züchtigungen, Demütigungen oder sonstiger Bestrafungen für (vermeintliches) Fehlverhalten des Kindes. Auch kann das wiederholte Miterleben von Gewalt zwischen den Eltern regelmäßig psychische Belastungen des Kindes begründen. Häufig führt (extreme) körperliche oder emotionale Vernachlässigung zur Unterversorgung des Kindes und damit zu einer Kindeswohlgefährdung. Suchterkrankungen oder psychische Störungen der Eltern können Gründe für einen solchen Ausfall sein. Gefährdet die Verweigerung notwendiger ärztlicher Behandlung durch die Eltern die Gesundheit des Kindes, ist unter Umständen von einer Kindeswohlgefährdung auszugehen. Ebenso können Konflikte zwischen den Eltern und Kindern Gefährdungsursachen für das Wohl des Kindes darstellen sowie das Überforderungserleben der Eltern. Der Abbruch gewachsener Bindungen an bisherige Betreuungspersonen oder der (ständige) Wechsel der gewohnten Lebensumgebung können im Einzelfall eine für das Kindeswohl notwendige Lebenskontinuität und Stabilität verhindern. Elterliches Verhalten, welches die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten des Kindes beeinträchtigt (zum Beispiel durch Verhinderung des Schulbesuchs oder Unterlassen von Maßnahmen gegen ein schulschwänzendes Kind), begünstigt eine Kindeswohlgefährdung. Das gilt auch für die krankhafte Isolierung des Kindes von sozialen Kontakten durch Umgangsverbote.
Zu beachten ist, dass viele weitere Ursachen für die Annahme einer Kindeswohlgefährdung in Betracht kommen können. Die obige Auflistung ist daher nur beispielhaft und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zusammengefasst ist die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung immer das Ergebnis einer Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung individueller Familienverhältnisse und Lebensumstände.
Auf die Zuständigkeit des Bundesministeriums der Justiz vor allem für das Kindschaftsrecht wird verwiesen.
Mit freundlichen Grüßen