Entzug von Geldvermögen ausländischer Staaten als Sanktion

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Wissenschaftliche Dienste

Deutscher Bundestag

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Ausarbeitung

 

Entzug von Geldvermögen ausländischer Staaten als Sanktion

© 2022 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 019/22, WD 2 - 3000 - 021/22, WD 3 - 3000 - 042/22, WD 5 - 3000 - 041/22
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Entzug von Geldvermögen ausländischer Staaten als Sanktion

Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 019/22, WD 2 - 3000 - 021/22, WD 3 - 3000 - 042/22,
WD 5 - 3000 - 041/22

‚Abschluss der Arbeit: 01.04.2022

Fachbereiche: WD 5: Wirtschaft und Verkehr, Ernährung und Landwirtschaft

(1. Einleitung)
WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe -

(2. Völkerrechtliche Grundsätze) -

PE 6: Fachbereich Europa (3. Sanktionen durch die EU)

WD 3: Verfassung und Verwaltung (4. Sanktionen durch den deut-
schen Staat)

 

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages
bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines sei-
ner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasse-
rinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeit-
punkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abge-
ordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, ge-
schützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder
Veröffentlichung.ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fach-
bereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen.
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 4
2. Völkerrechtliche Grundsätze 5
2.1. Interventionsverbot 6
2.2. Verhältnismäßigkeit und Reversibilität 7
2.3. Enteignungsschutz 10
2.4. Staatenimmunität 11
2.5. Fazit 11
3. Sanktionen durch die EU 12
3.1. Kompetenz der Union zur Enteignung im Rahmen der

Unionsverträge 12
3.2. Kompetenz der Union zur Enteignung im Rahmen von

Wirtschaftssanktionen 13
3.2.1. Rechtsgrundlage von Wirtschaftssanktionen 13
3.2.2. Verfahren zum Erlass von Wirtschaftssanktionen 13
3.2.2.1. Erste Stufe - GASP-Beschluss gemäß Art. 29 EUV 13
3.2.2.1.1. Zuständigkeit der Union im Rahmen der GASP 14
3.2.2.1.2. Grundsätze und Ziele der GASP 14
3.2.2.1.3. Inhalt des Beschlusses gemäß Art. 23EUV 14
3.2.2.2. Zweite Stufe — Beschluss gemäß Art. 215 AEUV 15
3.2.2.2.1. Formale Anforderungen an den Erlass restriktiver Maßnahmen 15
3.2.2.2.2. Enteignung staatlichen Vermögens als zulässige Maßnahmen im

Rahmen von Sanktionen gemäß Art. 215 AEUV 16

3.3, Zusammenfassung 18
3.4. Exkurs: Vorgaben der Europäischen Grundrechtecharta 19
4. Sanktionen durch den deutschen Staat 20
4.1. Vorrang von EU-Recht und allgemeinen Regeln des Völkerrechts 20
4.2. Eigentumsgarantie des Art. 14 GG 21
4.3. Sonstige Aspekte 22

4.4. Zusammenfassung 23
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1. Einleitung

Die Wissenschaftlichen Dienste wurden gefragt, ob — nach aktuellem Stand rein hypothetisch —
Geldvermögen ausländischer Staaten grundsätzlich eingezogen werden könnte, als Sanktion der
Europäischen Union oder Deutschlands für völkerrechtswidriges Verhalten eines Drittstaats. Da-
bei sind zwei Stadien zu unterscheiden:

- Die vielfach als „Einfrieren“ bezeichnete Beschlagnahme belässt das Eigentum weiterhin
beim Betroffenen. Er kann aber über das Eigentum nicht mehr frei verfügen. Bei einem
Bankkonto z. B. verbleibt der Betroffene zwar „Eigentümer“ des Geldbetrags, kann aber
keine Abhebungen oder Überweisungen mehr tätigen.

- An die Beschlagnahme kann, muss sich aber nicht, eine Einziehung anschließen. Diese
führt dazu, dass das Eigentum an dem Gegenstand auf den Staat übergeht. Der Staat kann
dann, z. B. bei einem eingezogenen Bankvermögen, über den Geldbetrag verfügen. Eine
Einziehung ist rechtlich auch ohne vorige Beschlagnahme möglich; eine Beschlagnahme
kann aber eine „Flucht“ des Vermögens vor einer späteren Einziehung verhindern.

Im Bereich internationaler Sanktionen ist das Einfrieren eine übliche Maßnahme, die Einziehung
hingegen nicht. So sieht die (unmittelbar in jedem Mitgliedstaat anwendbare) Verordnung (EU)
Nr. 269/2014 des Rates vom 17. März 2014' das „Einfrieren“ von Geldern der im Anhang geliste-
ten Personen vor.? Dabei geht es im Wesentlichen um die Verhinderung der Verwendung dieser
Vermögenswerte.’ Die Einziehung von Geldern fällt nicht darunter. Eine solche sieht die Verord-
nung auch nicht in anderen Vorschriften vor. Vergleichbares gilt für andere EU-Sanktionsverord-
nungen.®

Bei der Zulässigkeit von Sanktionen sind drei Regelungsebenen zu unterscheiden:

- Völkerrecht: Dieses bindet im Grundsatz auch die Europäische Union und ihre Mitglied-
staaten im Verhältnis untereinander und zu Drittstaaten.

- EU-Recht: Die EU verhängt restriktive Maßnahmen im Rahmen der Gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik (GASP). Dazu erlässt der Rat der Europäischen Union zunächst ei-

1 Verordnung (EU) Nr. 269/2014 des Rates vom 17. März 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Hand-
lungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder be-
drohen, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0269&from=DE.

 

2 , Art. 2 der genannten Verordnung.

3 Vgl. Art. 1 Buchst. f der genannten Verordnung. Die vollständige Definition für „Einfrieren von Geldern“ lautet:
„die Verhinderung jeglicher Form der Bewegung, des Transfers, der Veränderung und der Verwendung von Gel-
dern sowie des Zugangs zu ihnen oder ihres Einsatzes, wodurch das Volumen, die Höhe, die Belegenheit, das
Eigentum, der Besitz, die Eigenschaften oder die Zweckbestimmung der Gelder verändert oder sonstige Verän-
derungen bewirkt werden, die eine Nutzung der Gelder einschließlich der Vermögensverwaltung ermöglichen“.

4 Vgl. die Übersicht zu EU-Sanktionen unter https://www.sanctionsmap.eu/#/main.
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nen Beschluss. Sodann sind Maßnahmen wie Waffenembargos oder Einreisebeschränkun-
gen von den Mitgliedstaaten gemäß nationalem Recht umzusetzen. Andere Maßnahmen,
die auf die vollständige oder teilweise Aussetzung oder Einschränkung der Wirtschaftsbe-
ziehungen zu einem Drittstaat abzielen, einschließlich des Einfrierens von Geldern, wer-
den durch eine EU-Verordnung des Rates umgesetzt. Diese ist in allen ihren Teilen ver-
bindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Art. 288 Abs. 2 AEUV).? Auf eine sol-
che EU-Verordnung ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union anwendbar.

—- Nationales Recht: Insoweit keine vorrangige Zuständigkeit der EU besteht, und insoweit
Völkerrecht nicht entgegensteht, beurteilt sich die grundsätzliche Zulässigkeit einer Ein-
ziehung in Deutschland nach nationalem Verfassungsrecht.

Die Frage von Enteignungen und Entschädigungen im Kontext von etwaigen Kriegsreparationen
ist indes nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung. Im Gegensatz zum Reparationsregime, welches
das erlittene (Kriegs-)Unrecht wiedergutmachen und entschädigen will, besteht der Zweck des
völkerrechtlichen Sanktionsregimes allein darin, einen Aggressor zu völkerrechtskonformem
Verhalten zu bewegen. Die Frage der Reparationen setzt eine rechtlich verbindliche Klärung der
Kriegsschuldfrage voraus und stellt sich im Grunde erst nach Beendigung der Kampfhandlungen.

2. Völkerrechtliche Grundsätze

Gegenstand dieses Kapitels ist die Völkerrechtskonformität unilateraler Sanktionen, die darauf
abzielen, ausländisches Staatsvermögen (z.B. ausländische Währungsreserven einer Zentralbank)
zu enteignen.° Wirtschaftssanktionen eines Staates gegen einen anderen Staat können grundsätz-
lich dann völkerrechtskonform sein, wenn der sanktionierende Staat damit auf eine Völkerrechts-
verletzung des sanktionierten Staates reagiert (sogenannte Gegenmaßnahmen, auf Englisch coun-
termeasures).’ Ziel der Sanktionen ist es, den sanktionierten Staat durch einen Eingriff in seine

5 https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-5664-201 8-INIT/de/pdf.

6 In der Presse und in einigen Blogbeiträgen wurde bereits die Frage aufgeworfen, inwieweit eingefrorene russi-
sche Vermögenswerte beschlagnahmt und zum Wohle des ukrainischen Volkes eingesetzt werden könnten,
Siehe dazu Moiseienko, “Russian Assets, Accountability for Ukraine, and a Plea for Short-Term Thinking”, Blog

ofthe European Journal of International Law, 5. März 2022, https://www.ejiltalk.org/russian-assets-accountabil-
ity-for-ukraine-and-a-plea-for-short-term-thinking/; Wuerth, “Does Foreign Sovereign Immunity Apply to Sanc-

tions on Central Banks?”, Lawfare Blog, 7. März 2022, https://www.lawfareblog.com/does-foreign-sovereign-
immunity-apply-sanctions-central-banks; FAZ, „Polen will Oligarchen enteignen“, 21. März 2022,

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/polen-will-eigentum-von-oli archen-fuer-opfer-des-ukraine-krie-
ges-17894806.html; FAZ, „Dürfen Oligarchenvillen zu Flüchtlingsheimen umfunktioniert werden?“, 19, März

2022, https://www faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/ukraine-krie -darf-europa-russische-oligarchen-

enteignen-17882478/anwesen-von-oligarch-und-17882477.html.

7 Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Rechtsfragen zur Anerkennung des In-
. terimspräsidenten in Venezuela“, WD 2 - 3000 - 017/19 vom 15. Februar 2019, https://www.bundestag.de/re-
source/blob/595056/c8bf53d8fb2a3f163e104a725c732b15/WD-2-017-19-pdf-data. af, siehe im Einzelnen Knut
Ipsen, Völkerrecht, 7. Auflage, München 2018, $ 30 Rn. 41-66. Zur Völkerrechtskonformität der aktuellen EU-
Sanktionen gegen Russland siehe: Valta, „Wirtschaftssanktionen gegen Russland und ihre rechtlichen Grenzen“,
Verfassungsblog on matters constitutional vom 28. Februar 2022, https://verfassungsblog.de/wirtschaftssanktio-
nen-gegen-russland-und-ihre-rechtlichen-grenzen/ . .
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Rechte zu rechtmäßigem Handeln zu bewegen.® Bei der Gegenmaßnahme handelt es sich also um
eine eigentlich völkerrechtswidrige Reaktion auf völkerrechtswidriges Vorverhalten. Die Gegen-
maßnahme ist einzustellen, sobald sich der sanktionierte Staat völkerrechtskonform verhält.
Rechtlich werden Wirtschaftssanktionen auch auf Art. 51 VN-Charta, das Recht auf kollektive
Selbstverteidigung, gestützt.? Dem liegt die Überlegung eines Erst-Recht-Schlusses zugrunde, wo-
nach Wirtschaftssanktionen möglich sein müssen, wenn danach auch militärische Maßnahmen
zulässig sind."

Sie unterliegen jedoch völkerrechtlichen Schranken, die sich insbesondere aus dem völkerrecht-
lichen Interventionsverbot (2.1) sowie den Artikelentwürfen der International Law Commission
(ILC) zur Staatenverantwortlichkeit (2.2) ergeben. Weitere Erwägungen beziehen sich vor dem
Hintergrund der Zielrichtung der Sanktionen — der Enteignung ausländischer Devisenreserven —
auf den völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Enteignungsschutz'' (2.3.) sowie den Grundsatz
der Staatenimmunität’? (2.4.).

2.1. Interventionsverbot

Wirtschaftssanktionen können gegen das völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Interventions-
verbot verstoßen.'? Das Interventionsverbot folgt aus der souveränen Gleichheit aller Staaten und
verbietet es, sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen.'* Das In-
terventionsverbot wird aber nur dann verletzt, wenn die Einmischung unter Androhung oder An-
wendung von Zwang erfolgt und eine gewisse Intensitätsschwelle erreicht wird.'” Mit Blick auf
Wirtschaftssanktionen gibt es keine einheitliche Praxis, wann die Grenze zwischen erlaubtem

8 Ipsen, Völkerrecht, 7. Auflage, München 2018, $ 30 Rn. 41.

9 Schneider, Wirtschaftssanktionen, 1999, S. 114; Frowein, “Reactions by not directly affected states to breaches
. of public international law”, in: Recueil des cours, 1994 — IV, S. 345 ff., 368 f., 370; Verdross/Simma, Uni-
verselles Völkerrecht, 1984, S. 908 f. $ 1343.

10 Valta, „Wirtschaftssanktionen gegen Russland und ihre rechtlichen Grenzen“, Verfassungsblog on matters con-

stitutional vom 28. Februar 2022, https://verfassungsblog. de/wirtschaftssanktionen-gegen-russland- -und-ihre-
rechtlichen-grenzen/.

11 Ipsen, Völkerrecht, 7. Auflage, München 2018, $ 51 Rn. 7.
12 Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht, Heidelberg: C.F. Müller, 4. Aufl. 2017, Rn. 94.

13 Vgl. Valta, „Wirtschaftssanktionen gegen Russland und ihre rechtlichen Grenzen“, Verfassungsblog on matters

constitutional vom 28. Februar 2022, https://verfassungsblog. de/wirtschaftssanktionen-gegen- -russland-und-
ihre-rechtlichen-grenzen/.

14 Kunig, Prohibition of Intervention (Stand: April 2008), in: Wolfrum (Hrsg.), MPEPIL, http://opil.oup-
1 /view/10. ; -e1434-div2-4

 

15 Kunig, Prohibition of Intervention (Stand: April 2008), in: Wolfrum (Hrsg.), MPEPIL, http://opil.oup-
law.com/view/10.1093/law: epil/9780199231690/law-9780199231690-81434#law- -9780199231690-81434-div2-4,
Rn. 5.
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wirtschaftlichem Druck zu einer völkerrechtswidrigen Intervention überschritten ist.'* Überwie-
gend wird die Ansicht vertreten, dass nur extreme Formen der Druckausübung unter das Inter-
ventionsverbot fallen, welche die Schwelle der Erheblichkeit überschreiten, indem sie vitale
Staatsinteressen berühren und den sanktionierten Staat in der Ausübung seiner Souveränität be-
hindern.'’ So verstoßen etwa wirtschaftliche Sanktionen, die einen Regimewechsel oder eine De-
mokratisierung anstreben, gegen das Interventionsverbot.'®

Das Einfrieren von ausländischen Währungsreserven bzw. eine Enteignung derselben dürfte je-

“doch diese Schwelle noch nicht überschreiten.'® Hierfür spricht etwa auch, dass Staaten übli-
cherweise über Devisenreserven in verschiedenen Ländern verfügen und durch entsprechende
unilaterale Sanktionen nicht sämtliche finanzielle Ressourcen einbüßen.?

2.2. Verhältnismäßigkeit und Reversibilität

Weitere völkerrechtliche Schranken ergeben sich aus den ILC Artikelentwürfen zur Staatenver-
antwortlichkeit (Art. 49-54).”' Die Artikelentwürfe sind kein völkerrechtlicher Vertrag, spiegeln
aber im Wesentlichen den Stand der Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts wider.?? Die

16 _ Kunig, Prohibition of Intervention (Stand: April 2008), in: Wolfrum (Hrsg.), MPEPIL, http://opil.oup-
law.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-81434#law-9780199231690-e1434-di
Rn. 7 ff., Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Rechtsfragen zu völkerrechtli-
chen Sanktionen“, WD 2 - 3000 - 071/19 vom 8. Juli 2019, S. 8, https://www.bundestag.de/re-

source/blob/657444/ae4d7f74e93145b7ca5e8aa8c8042bdf/WD-2-071-19-pdf-data.pdf.

17 Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Rechtsfragen zu völkertechtlichen
Sanktionen“, WD 2 - 3000 - 071/19 vom 8. Juli 2019, S. 7, https://www.bundestag.de/re-
source/blob/657444/ae4d7f74e93145b7ca5e8aa8c8042bdf/WD-2-071-19-pdf-data.pdf; Caroni „Finanzsanktionen
der Schweiz im Staats- und Völkerrecht“, Schweizer Studien zum Internationalen Recht, Zürich: Schulthess,
2008, S. 146 f., http://www.advocat.ch/fileadmin/user upload/publikationen/andrea_caroni/Finanzsanktio-
nen der Schweiz im Staats- und Voelkerrecht.pdf.

   

18 _Valta, „Wirtschaftssanktionen gegen Russland und ihre rechtlichen Grenzen“, Verfassungsblog on matters con-

stitutional vom 28. Februar 2022, https://verfassungsblog.de/wirtschaftssanktionen-gegen-russland-und-ihre-
rechtlichen-grenzen/.

19 Siehe dazu auch Caroni, „Finanzsanktionen der Schweiz im Staats- und Völkerrecht“, Schweizer Studien zum

Internationalen Recht, Zürich: Schulthess, 2008, S. 147, http://www.advocat.ch/fileadmin/user upload/publi-
kationen/andrea_caroni/Finanzsanktionen der Schweiz im Staats- und Voelkerrecht.pdf.

20 Siehe dazu auch Caroni „Finanzsanktionen der Schweiz im Staats- und Völkerrecht“, Schweizer Studien zum
Internationalen Recht, Zürich: Schulthess, 2008, S. 147, http://www.advocat.ch/fileadmin/user upload/publi-
kationen/andrea caroni/Finanzsanktionen der Schweiz im Staats- und Voelkerrecht.pdf. Selbst wenn eine
Verletzung des Interventionsverbots im Einzelfall angenommen würde, kann diese „jedoch durch den Charakter
der Maßnahme als Repressalie gerechtfertigt sein“, Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Mün-
chen: Beck, 54. EL Oktober 2021,K. I. 6. Rn. 110-114.

21 ILC, Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, Anlage der Resolution Nr.
56/83 der VN-Generalversammlung, 12. Dezember 2001, http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/eng-
lish/draft articles/9 6 2001.pdf, deutsche Fassung: http://eydner.org/dokumente/darsiwaev.PDF.

22 Ipsen, Völkerrecht, 7. Auflage, München 2018, $ 30 Rn. 41.
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Kommentierung der International Law Commission zu den Draft Articles on State Responsibility
macht den Grundcharakter von Gegenmaßnahmen deutlich:

“Since countermeasures are intended as instrumental — on other words, since they are taken with a
view to procuring cessation of and reparation for the internationally wrongful act and not by way of
punishment - they are temporary in character and must be as far as possible reversible in their ef-
fects in terms of future legal relations between the two States. [...] Their aim is the restoration of a
condition of legality as between the injured State and the responsible State, and not the creation of
new situations which cannot be rectified whatever the response of the latter State to the claims
against it. Countermeasures are taken as a form of inducement, not punishment: if they are effective
in inducing the responsible State to comply with its obligations of cessation and reparation, they
should be discontinued and performance of the obligation resumed.””°

Zentrale Zulässigkeitsvoraussetzung für Gegenmaßnahmen ist die Beachtung des Verhältnismä-
Bigkeitsgrundsatzes in seiner völkerrechtlichen Ausprägung.” Diese müssen in „einem ange-
messenen Verhältnis zu dem erlittenen Schaden stehen, wobei die Schwere der völkerrechtswid-
rigen Handlung und die betreffenden Rechte zu berücksichtigen sind“ (vgl. Art. 51 der Artikel-
entwürfe zur Staatenverantwortlichkeit). Die Verhältnismäßigkeit wird in der wissenschaftlichen
Literatur daher verneint, wenn die Gegenmaßnahme den Unrechtsgehalt des sanktionierten De-
likts weit übersteigt und zeitlich unbeschränkt ist.”

Gegenmaßnahmen müssen zudem grundsätzlich reversibel sein, für den Fall, dass der sanktio-
nierte Staat zu rechtmäßigem Verhalten zurückkehrt.?® Zwar schränkt Art. 49 Abs. 3 der Artikel-
entwürfe zur Staatenverantwortlichkeit diese Vorgabe dahingehend ein, dass „Gegenmaßnahmen
[...] möglichst in einer Weise zu ergreifen [sind], die die Wiederaufnahme der Erfüllung der be-
treffenden Verpflichtungen zulässt“, sodass die Reversibilität nach teilweise vertretener Auffas-
sung keine zwingende Voraussetzung darstellt.?” Jedoch sind die Staaten dazu angehalten, die

23 Commentary on Chapter II, Countermeasures, p. 129 sowie Commentary on Article 49, p. 131 para 7, https://le-
gal.un.org/ile/texts/instruments/english/commentaries/9 6_2001.pdf (2008).

24 Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Rechtsfragen zu völkerrechtlichen
Sanktionen“, WD 2 - 3000 - 071/19 vom 8. Juli 2019, S. 7, https://www.bundestag.de/re-
source/blob/657444/ae4d7f74e93145b7ca5e8aa8c8042bdf/WD-2-071-19-pdf-data.pdf.

25 Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Rechtsfragen zu völkerrechtlichen
Sanktionen“, WD 2 - 3000 - 071/19 vom 8. Juli 2019, S. 7, https://www.bundestag.de/re-
source/blob/657444/ae4d7f74e93145b7ca5e8aa8c8042bdf/WD-2-071-19-pdf-data.pdf.

26 Gegenmaßnahmen müssen grundsätzlich auf die vorübergehende Nichterfüllung völkerrechtlicher Verpflich-
tungen begrenzt sein (vgl. Art. 49 Abs. 2 der Artikelentwürfe zur Staatenverantwortlichkeit), siehe auch Ipsen,
Völkerrecht, 7. Auflage, München 2018, $ 30 Rn. 59.

27 Ipsen, Völkerrecht, 7. Auflage, München 2018, $ 30 Rn. 59. In der Kommentierung von 2008 der International
Law Commission zu den Draft Articles on State Responsibility (https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/eng-
lish/commentaries/9 6 2001.pdf) heißt es: “However, the duty to choose measures that are reversible is not ab-
solute. It may not be possible in all cases to reverse all of the effects of countermeasures after the occasion for
taking thern has ceased” (Commentary on Article 49, p. 131 para. 9).
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Reversibilität bei der Auswahl der Gegenmaßnahme zu berücksichtigen.” Vor diesem Hinter-
grund dürfte das Einfrieren ausländischer Währungsreserven als Sanktion eher zulässig sein, als
eine Enteignung.”® In der Kommentierung der International Law Commission zu den Draft Arti-
cles on State Responsibility heißt es: “By contrast, inflicting irreparable damage on the responsi-
ble State could amount to punishment or a sanction for non-compliance, not a countermeasure as
conceived in the articles. ”?°

Weiterhin setzt eine Gegenmaßnahme im Sinne der ILC-Artikelentwürfe voraus, dass die Maß-
nahme ausschließlich das Ziel verfolgt, den sanktionierten Staat zu rechtmäßigem Verhalten zu
bewegen. Daher gelten „Vergeltungs- oder Bestrafungsmaßnahmen“ als unzulässig.’' Diesem
Grundsatz könnte eine Enteignung ausländischen Staatsvermögens entgegenstehen, wenn sie
nicht nur auf die Beendigung des rechtswidrigen Verhaltens abzielt, sondern die eingefrorenen
Gelder für andere Zwecke (z.B. Wiederaufbau, Entschädigungszahlungen) nutzbar machen soll.
Ein Anhalten zu einem völkerrechtsgemäßen Verhalten dürfte dann effektiver sein, wenn eine
Einziehungsmaßnahme in einzelnen Tranchen erfolgt, um den Druck auf den sanktionierten
Staat zu erhöhen. Mit Blick auf die Vermeidung eines reinen Bestrafungseffekts denkbar wäre au-
Berdem eine klare Trennung dahingehend, zum Zeitpunkt der Einziehung der Vermögen gerade
keine spätere Verwendung zu bestimmen, etwa durch Nutzung eines Treuhandkontos. In der Li-
teratur wird andersherum in diesem Zusammenhang überlegt, wie man Sanktionen mit Reparati-
onen verknüpfen könnte. Vorgeschlagen werden etwa bilaterale Vereinbarungen, wonach die
Aufhebung der Sanktionen (nach Kriegsende) von Reparationszahlungen abhängig gemacht wer-
den könnten.?? \

28 Ipsen, Völkerrecht, 7. Auflage, München 2018, $ 30 Rn. 59,

29 So auch für die Suspendierung von Verträgen im Gegensatz zur Beendigung von Verträgen: Ipsen, Völkerrecht,
7. Auflage, München 2018, $ 30 Rn. 58. Für eine differenzierte Sichtweise siehe Moiseienko, “Russian Assets, -
Accountability for Ukraine, and a Plea for Short-Term Thinking”, Blog of the European Journal of International
Law, 5. März 2022, https://www.ejiltalk.org/russian-assets-accountability-for-ukraine-and-a-plea-for-short-term-
thinking/: “The notion that sanctioned assets can be confiscated for good may be unpalatable to some. This is
because, to justify the relatively light due process guarantees that attach to the imposition of sanctions, govern-
ments tend to play them up as temporary, preventative measures. But that really depends. One of the EU’s sanc-
tions regimes, known as ‘misappropriation sanctions’, was aimed specifically at securing ill-gotten assets of
public officials from Egypt, Tunisia and Ukraine with a view to their further confiscation.”

30 Commentary on Article 49, p. 131 Rn. 9, https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commen-
taries/9_6_2001.pdf (2008).

31 Ipsen, Völkerrecht, 7. Auflage, München 2018, $ 30 Rn. 58.

32 So Moffet, “Sanctions for War, Reparations for Peace?”, Opinio Juris, 1. April 2022, http://opinioju-
tis.0rg/2022/04/01/sanctions-for-war-reparations-for-peace/.
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2.3. Enteignungsschutz

Eine weitere völkerrechtliche Schranke ergibt sich aus dem völkergewohnheitsrechtlichen Ent-
eignungsschutz.’ So hat sich gewohnheitsrechtlich ein fremdenrechtlicher Mindeststandard her-
ausgebildet, der vor willkürlichen Enteignungen durch einen anderen Staat schützt.” Enteignun-
gen sind danach nur dann völkerrechtskonform, wenn sie einen legitimen Zweck (öffentliches
Interesse) verfolgen, keine diskriminierende Wirkung haben und grundsätzlich eine Entschädi-
gung vorsehen.” Die Enteignung von Geldvermögen ausländischer Staaten als Sanktion würde
jedoch nie eine Entschädigung vorsehen, da sonst der Zweck konterkariert würde. Zudem liegen
Enteignungen und Verstaatlichungen wirtschaftspolitische Erwägungen zugrunde (z.B. als In-
strument der Wirtschaftsregulierung)?*, während Finanzsanktionen als vorübergehendes politi-
sches Druckmittel eingesetzt werden, um ein völkerrechtswidriges Verhalten zu beenden.”

Vor diesem Hintergrund erscheint eine entschädigungslose Enteignung ausländischen Staatsver-
mögens völkerrechtlich tendenziell unzulässig, weil sie sich außerhalb des tradierten Sanktions-
regimes bewegen würde.

In der Literatur wurde überlegt, ob und inwieweit ein Verstoß gegen den völkerrechtlichen Ent-
eignungsschutz als Gegenmaßnahme gerechtfertigt sein könnte.” Eine entsprechende Debatte fin-
det aktuell u.a. in Polen mit Blick auf das Privatvermögen russischer Oligarchen statt. Dabei soll
im Wege einer Verfassungsänderung offenbar die rechtliche Möglichkeit geschaffen werden, Pri-
vatvermögen zu enteignen und mit dem Erlös Kriegsopfer zu unterstützen.’®

33 Siehe Caroni, „Finanzsanktionen der Schweiz im Staats- und Völkerrecht“, Schweizer Studien zum Internatio-
nalen Recht, Zürich: Schulthess, 2008, S. 198 ff., http://www.advocat.ch/fileadmin/user upload/publikatio-
nen/andrea caroni/Finanzsanktionen der Schweiz im Staats- und Voelkerrecht.pdf.

34 Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wiitschaftsrechts, München: Beck, 54. EL Oktober 2021, K. I. 6. Rn. 114.

35 Vgl. Ipsen, Völkerrecht, 7. Auflage, München 2018, $ 51, Rn. 8; Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschafts-
rechts, München; Beck, 54. EL Oktober 2021, K. I. 6. Rn. 113. Ob es sich um full compensation handeln muss,
ist umstritten.

36 Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht, Heidelberg: C.F. Müller, 4. Aufl. 2017, Rn. 600.

37 Siehe Caroni „Finanzsanktionen der Schweiz im Staats- und Völkerrecht“, Schweizer Studien zum Internatio-
nalen Recht, Zürich: Schulthess, 2008, S. 199, http://www.advocat.ch/fileadmin/user upload/publikationen/an-
drea caroni/Finanzsanktionen der Schweiz im Staats- und Voelkerrecht.pdf.

38 Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, München: Beck, 54. EL Oktober 2021, K. I. 6. Rn. 113.

39 FAZ v. 21. März 2022, „Polen will Oligarchen enteignen“, https://www faz.net/aktuell/politik/ausland/polen-
will-eigentum-von-oligarchen-fuer-opfer-des-ukraine-krieges-17894806.html; FAZ v. 19. März 2022, „Dürfen
Oligarchen-Villen zu Flüchtlingsheimen umfunktioniert werden?“, https://www faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-

und-reich/ukraine-krieg-darf-europa-russische-oligarchen-enteignen-17882478/anwesen-von-oligarch-und-
17882477.html.
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