Rechtsgutachten_Prof-Bayreuther_Umsetzung-CCOO-Urteil.pdf

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Gutachten von Frank Bayreuther zur Arbeitszeiterfassung

/ 64
PDF herunterladen
In die gleiche Richtung weisen die Aufzeichnungspflichten nach dem Mindestlohnrecht. Der Gesetzgeber hat diese nämlich nicht zuletzt deshalb eingeführt, weil er der Ansicht war, dass die Aufzeichnungspflichten nach dem Arbeitszeitrecht nicht ausreichen, um die gesamte mindestlohnrelevante Arbeitszeit einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers zuverlässig dokumentieren zu können. 45 Vor allem aber gilt zu beachten, dass eine richtlinienkonforme Auslegung voraussetzt, dass die Richtlinie selbst ein eindeutiges Auslegungsergebnis hergibt oder aber, dass der EuGH mögliche Auslegungsalternativen auf ein bestimmtes Auslegungsergebnis verdichtet hat. Aus der Arbeitszeitrichtlinie lässt sich aber keine konkrete Vorgabe für ein Arbeitszeiterfassungssystem entnehmen; vielmehr räumt der EuGH den Mitgliedstaaten sogar einen ganz erheblichen Gestaltungsspielraum ein, was dessen Einrichtung betrifft. Beispielhaft zeigt das Rn. 63 des Urteils: „(Es obliegt) den Mitgliedstaaten, im Rahmen des ihnen insoweit eröffneten Spielraums, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere dessen Form, festzulegen, und zwar gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar der Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihrer Größe; …“ Besteht mithin ein derart weiter Beurteilungs-, Gestaltungs- und Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten, können die mitgliedstaatlichen Gerichte diesen nicht dadurch ausfüllen, dass sie nach eigenen Vorstellungen eine Aufzeichnungspflicht etablieren. Zur Problematik der Vereinbarkeit einer verwaltungs- bzw. sanktionsrechtlichen Durchsetzung mit Art. 103 GG, s. sogleich, III.3.a. b) Direktwirkung gegenüber öffentlichen Arbeitgebern Richtlinien können in Vertikalverhältnissen und mithin gegenüber öffentlichen Arbeitgebern direkt wirken, soweit (1) ein Mitgliedstaat sie nicht fristgemäß umgesetzt hat, (2) es um Bestimmungen einer Richtlinie geht, die inhaltlich unbedingt und hinreichend genau formuliert sind und (3) diese Bestimmungen eben Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können. Indes scheitert eine Direktwirkung hier daran, dass die Richtlinie die einschlägige Verpflichtung des Arbeitgebers nicht hinreichend genau 45 Riechert/Nimmerjahn, Fn. 2, § 17 Rn. 39; in diese Richtung auch Koberski/Asshoff/Eustrup/Winkler, 3. Auflage 2011, § 19 AEntG Rn. 4; Thüsing/Joussen, Fn. 22, § 17 MiLoG Rn. 10; Lakies, Fn. 22, § 17 MiLoG Rn. 5; vgl. auch Beschlussempfehlung Ausschuss zum früheren MiArbBG, BT-Drs. 13/8994. 21
21

formuliert, sondern den Mitgliedstaaten ein ganz erheblicher Gestaltungsspielraum bei der 46 Einführung des Zeiterfassungssystems zukommt. S. bereits III.1.a. 2. Keine Direktwirkung über Art. 31 Abs. 2 GrCh Wie in zahlreichen anderen jüngeren Urteilen zum Urlaubsrecht 47 stützt der EuGH die von ihm angenommene Zeiterfassungspflicht des Arbeitgebers nicht alleine auf die Richtlinie, sondern stellt auch eine Verknüpfung zur Grundrechtscharta her, hier zu Art. 31 Abs. 2 GrCh. 48 Allerdings lässt das vorliegende Urteil völlig offen, was daraus im konkreten Fall zu folgern ist. Denkbar ist nämlich, dass der Gerichtshof sein Auslegungsergebnis lediglich durch die Charta untermauert sehen will, dieses also auf eine Art verfassungskonforme Auslegung der 49 Richtlinie stützt. Freilich lassen sich die einschlägigen Passagen auch so verstehen, dass er die Aufzeichnungspflicht des Arbeitgebers als in der Charta verortet ansieht. Wäre dies der Fall, würde sich diese möglicherweise unmittelbar und direkt auch an Privatrechtspersonen, mithin also an die einzelnen Arbeitgeber wenden. Das Urteil ist an dieser Stelle zweideutig und lässt unterschiedliche Interpretationen zu. Gegen eine Verortung der Aufzeichnungspflicht in Art. 31 GrCh und mithin gegen deren „Direktwirkung“ spricht indes ein ganzes Bündel an Argumenten: Zunächst ruft es ganz grundsätzlich erhebliche Bedenken hervor, dass der EuGH zuletzt immer häufiger dazu neigte, seine Rechtsprechung als grundrechtlich fundiert anzusehen. 50 Diese Sichtweise nimmt ihren Ausgangspunkt im Diskriminierungsrecht. Dort erschien ein direkter Zugriff auf das Diskriminierungsverbot aber nicht völlig unüberzeugend. Abgesehen davon, dass es sich dabei um eine Bestimmung von besonderem Gewicht handelt, ist dieses bereits im Grundrechtstext selbst so abschließend beschrieben, dass aus diesem Schlussfolgerungen für die Rechtspraxis gezogen werden können. Ganz anders liegen die 46 Vgl. Happ, jurisPR-Compl 3/2019 Anm. 2 sub. D. 47 EuGH 12.6.2014, C-118/13, Bollacke, NZA 2014, 651 = ECLI:EU:C:2014:1755. EuGH 6.11.2018 C-569/16, C-570/16, Willmeroth, NZA 2018, 1467(1473) Rn. 87f. = ECLI:EU:C:2018:876. EuGH 6.11.2018, C-684/16, Max-Planck/Shimizu, NZA 2018, 1474 (1479) Rn. 76ff. = ECLI:EU:C:2018:874. EuGH 6.11.2019, C-619/16, Kreuziger, NZA 2019, 36 = ECLI:EU:C:2018:872.. 48 EuGH, Fn. 1 Rn. 60. 49 So etwa: Happ, jurisPR-Compl 3/2019 Anm. 2 sub. C. 50 EuGH 17.4.2018 , C-414/16, Egenberger, NZA 2018, 569 = ECLI:EU:C:2018:257; EuGH 22.11.2005, C- 144/04, Mangold, NZA 2005, 1345 = ECLI:EU:C:2005:709; EuGH 19.1.2010, C-555/07, Kücükdeveci, NZA 2010, 85 = ECLI:EU:C:2010:21. 22
22

Dinge dagegen bei den sozialen Grundrechten. Diese sind ungemein weit formuliert, offen gehalten und sie erfassen die konkurrierenden Interessen beider Vertragsparteien gleichermaßen. Ihnen ist mithin gerade kein konkreter Normbefehl zu entnehmen. Darüber hinaus gibt es im Richtlinienrecht kaum einen Aspekt, der nicht wenigstens andeutungsweise eine Widerspiegelung in der Charta fände, hat das zur Folge, dass der Wirkungsbereich der Charta weit über Art. 51 Abs. 1 GrCh hinaus ausgedehnt wird. Faktisch haben die Grundrechte so unmittelbare Drittwirkung unter Privaten erlangt. Mittelbar wird so aber auch Richtlinien entgegen der Vertragsbestimmung des Art. 288 Abs. 3 AEUV Direktwirkung auch im Horizontalverhältnis vermittelt, was nicht zuletzt auch im Hinblick auf den 51 Kompetenzkatalog des Art. 153 Abs. 1 lit. c iVm Abs. 2 lit. b kritisch zu sehen ist. Im konkreten Fall kommt aber noch hinzu, dass im Urteil die fraglichen Passagen ganz 52 deutlich hinter der Formulierungsdichte der urlaubsrechtlichen Judikatur der Gerichtshofs zurückbleiben, in denen dieser eine Direktwirkung der Charta unter Privaten annimmt. Auch nimmt der Gerichtshof keinen Rekurs auf die Ausführungen des Generalanwalts Pitruzella, wonach sich aus Art. 31 Abs. 2 GrCh eine unmittelbar gegen (private) Arbeitgeber gerichtete 53 Dokumentationspflicht herleiten lässt. Den gegenteiligen Schluss aus diesem Umstand zieht 54 allerdings D. Ulber. Er ist der Ansicht, dass sich die einschlägigen Ausführungen des EuGH in seiner Urlaubsrechtsprechung mittlerweile zu gefestigten Rechtsgrundsätzen verdichtet hätte und der Gerichtshof mit der fraglichen Passage auf diese Bezug nehmen wollte. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass aus der „richtlinienvermittelten“ Direktwirkung der Charta bislang nur gefolgert wurde, dass die Gerichte chartawidriges nationales Recht unangewendet lassen müssen. Bislang gibt es aber keine Äußerung des EuGH dazu, wie zu verfahren ist, wenn sich ein grundrechtskonformer Zustand nicht durch dessen Nichtanwendung herstellen 55 lässt. Selbst eine etwaige „Direktwirkung“ der Grundrechtscharta kann die Gerichte aber kaum zu einer schöpferischen Ergänzung des nationalen Rechts verpflichten. Insoweit lässt sich auch nicht auf die Rechtsprechung des EuGH in Sachen Kreuziger bzw. Shimizu/Max-Planck-Gesellschaft zurückgreifen. 56 Dort entnimmt der Gerichtshof Art. 31 GrCh zwar eine Verpflichtung des Arbeitgebers, Beschäftigte in einem angemessenen Umfang über ihre Urlaubsansprüche zu informieren. 51 S. zum Ganzen nur: Rudkowski, NJW 2019, 476, 479; diess., EuZA 2018, 366; Kainer, NZA 2018, 894. 52 Oben Fn. 47. 53 Schlussantrag des Generalanwalts Pitruzzella v. 31.1.2019, C-55/18, Rn. 93 ff. 54 D. Ulber, NZA 2019, 677, 680. 55 Fuhlrott/Garden, ArbRAktuell 2019, 263, 264. 56 Oben Fn. 47. 23
23

Damit hat der EuGH aber bei weitem keine isolierte Handlungspflicht des Arbeitgebers geschaffen. Vielmehr beschränkte er mitgliedstaatliches Urlaubsrecht lediglich dahingehend, dass dieses dann keinen Verfall des Urlaubs mit Ablauf eines Bezugszeitraums vorsehen darf, wenn der Arbeitgeber die Arbeitnehmerin bzw. den Arbeitnehmer nicht zuvor entsprechend unterrichtet hatte. Schließlich ist auch an dieser Stelle nochmals auf den weiten Entscheidungsspielraum hinzuweisen, den der EuGH den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung einräumt (vgl. nochmals Rn. 63 des Urteils). Jedenfalls mit Rücksicht darauf lassen sich der Charta keine konkreten Handlungspflichten des Arbeitgebers entnehmen, was die Erfassung der Arbeitszeit der bei ihm tätigen Beschäftigten betrifft. 3. Grenzen einer Anpassung des Arbeitszeitrechts durch die Gerichte Selbst wenn man sich den vorstehenden Überlegungen nicht anschließen und davon ausgehen wollte, dass sich die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung bereits in das geltende Recht transformieren lässt – sei es über eine richtlinienkonforme Auslegung des Arbeitszeitrechts, sei es über die Ausstrahlungswirkung der Grundrechtscharta – wäre mehr als fraglich, ob das so erreichbare Ergebnis auch nur annähernd den Vorgaben des EuGH entspricht. a) Keine Direktwirkung im öffentlichen Arbeitszeitrecht Eine direkte Einstrahlung des Urteils in das öffentliche Arbeitszeitrecht kommt nicht in Betracht. Derart würde der Richtlinie (oder auch der Grundrechtscharta) im Vertikalverhältnis Direktwirkung verschafft und zwar zu Lasten der Bürger, was so nicht vorstellbar ist. Zudem würden den Verwaltungsbehörden weitreichende Kompetenzen zuerkannt werden, ohne dass es eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage hierfür gibt. Das ist mit Art. 20 Abs. 3 GG kaum vereinbar. Die Verhängung von Bußgeldern würde zudem an Art. 103 Abs. 2 GG scheitern. Allenfalls erschiene möglich, dass – wie bereits zu II.3. dargelegt – die Aufsichtsbehörde in ihr Ermessen nach § 17 Abs. 2 und 4 ArbZG einstellt, dass das ArbZG die Richtlinie der Union nicht vollständig umgesetzt hat. Das lässt indes kaum mehr zu, als dass sie in begründeten Einzelfällen verlangt, die Arbeitszeit vollständig aufzuzeichnen, dies wohlgemerkt nur dann, wenn der Arbeitgeber überhaupt Mehrarbeit iSd. § 16 Abs. 2 ArbZG anordnet. 24
24

b) „Umsetzung“ auf der Ebene des privaten Arbeitsrechts aa) Ist eine Umsetzung der Richtlinie alleine auf privatrechtliche Ebene ausreichend? Die Arbeitszeitrichtlinie gibt keine bestimmte Form vor, in der diese umzusetzen ist. Sie verlangt von den Mitgliedstaaten lediglich, „die erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen (so z.B. Art. 3 der Richtlinie). Daher scheint es im theoretischen Ansatz gar nicht einmal zwingend, dass ihre Vorgaben in das öffentliche Arbeitsrecht übernommen und deren Einhaltung durch Behörden kontrolliert werden müssten. So gesehen könnte man eine Umsetzung alleine auf zivilrechtlicher Basis für nicht ausgeschlossen halten, so wie das ja auch im Urlaubsrecht der Fall ist. Tatsächlich erwähnt der EuGH im Urteil nur, dass in 57 Spanien Behörden vorhanden sind, die die Einhaltung des nationalen Rechts kontrollieren; er verbindet dies aber nicht mit der Aussage, dass dem so sein muss. Auch frühere Urteile des Gerichtshofs 58 enthalten keine Aussage dahingehend, dass die Richtlinie zumindest teilweise in das öffentliche Recht des Mitgliedstaaten übernommen werden müsste. Den meisten Entscheidungen des EuGH liegen Individualrechtsstreitigkeiten zu Grunde, in deren Rahmen sich der EuGH zur Auslegung des nationalen Arbeitszeitrechts äußert. Umgekehrt reicht aber nicht, dass die Mitgliedstaaten irgendwelche Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie treffen, vielmehr müssen sie das unternehmen, was „erforderlich“ ist, damit den Beschäftigten der durch die Richtlinie gewährte Schutz auch tatsächlich zukommt. Die gewählten Mittel müssen zudem geeignet und effektiv sein („effet utile“). In den Worten des EuGH: Die Mitgliedstaaten müssen die „volle Wirksamkeit“ der Richtlinie gewährleisten und „jede Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit“ verhindern. Richtlinien dürfen nicht so umgesetzt werden, dass es faktisch zu einer Aushöhlung der darin verankerten Rechte kommt. 59 Und so kommen dann doch Zweifel daran auf, ob eine rein privatrechtliche Umsetzung wirklich stark genug ist, um den arbeitszeitrechtlichen Vorgaben der Richtlinie im Alltag des Arbeitslebens wirklich Gehör zu verschaffen. Das gilt umso mehr, als der EuGH im Urteil ja mit einigem Nachdruck darauf hinweist, dass der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen und deshalb zu besorgen ist, dass der Arbeitgeber ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen könnte. 60 57 EuGH (Fn. 1) Rn. 56 u 57. 58 S. die Nachw. in Fn. 71. 59 EuGH (Fn. 1) Rn. 56. 60 EuGH (Fn. 1) Rn. 57. 25
25

Das alles deutet darauf hin, dass sich eine Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie alleine in das private Arbeitszeitrecht kaum als ausreichend erweisen dürfte. Denn selbst wenn einzelne Beschäftigte ihre Rechte gegen einen Arbeitgeber, der diese nicht beachtet, durchsetzen würden, würde das doch stets nur zwischen den Parteien wirken. Mit einer entsprechenden gerichtlichen Entscheidung ließe sich aber nicht eine Erfassungspflicht für den gesamten Betrieb begründen, geschweige denn für das Arbeitsleben insgesamt. Schlussendlich spricht gegen eine alleinige zivilrechtliche Umsetzung auch, dass der EuGH in der Rechtssache Fuß entschieden hat, dass die Mitgliedstaaten einen Anspruch der Beschäftigten auf Schadensersatz wegen Arbeitszeitüberschreitung nicht davon abhängig machen dürfen, dass zuvor ein „Antrag auf Einhaltung dieser Bestimmung beim (…) Arbeitgeber gestellt wurde.“ Derart würde man die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts auf die Fälle beschränken, in denen dieses von der Arbeitnehmerin bzw. dem Arbeitnehmer geltend gemacht werde, was dem Verhalten Vorschub leisten würde, sich nur dann an das Unionsrecht zu halten, wenn dessen Beachtung eingefordert werde. 61 bb) Rechtstechnische Machbarkeit Aber auch rechtstechnisch gesehen erscheinen die Mittel und Möglichkeiten, um eine Zeiterfassung auf privatrechtlicher Ebene zu etablieren, außerordentlich begrenzt. α) Anspruch auf Aufzeichnung Lässt man die Entscheidung des EuGH direkt auf die privatrechtliche Ebene durchschlagen, könnte der einzelne Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber verlangen, dass seine Arbeitszeit akkurat erfasst und aufgezeichnet wird und zwar notwendigerweise ohne Rücksicht auf die 62 Diskussion über die Doppelwirkung des öffentlichen Arbeitsschutzrechts. Bislang war man zwar davon ausgegangen, dass der Arbeitnehmer aus einem Verstoß des Arbeitgebers etwa 63 gegen § 16 Abs. 2 ArbZG keine zivilrechtlichen Ansprüche herleiten könne. Das könnte indes nicht mehr aufrechterhalten werden, würde das CCOO-Urteil direkt in das deutsche Arbeitszeitrecht hineinstrahlen. Methodisch ließe sich daran anknüpfen, dass sich aus den §§ 611a, 241 Abs. 2, 242, 618 BGB und Art. 12 ff. DS-GVO, §§ 7, 12 und 14 ArbSchG eine Verpflichtung des Arbeitgebers herleiten lässt, den Arbeitnehmer über bestimmte mit dem Arbeitsverhältnis in 61 EuGH 25.11.2010, C-429/09, Fuß II, NZA 2011, 53 = ECLI:EU:C:2010:717 Rn. 70 ff. 62 S. nur ErK/Wank, Fn. 2, § 618 Rn. 4; MHdbArbR/Reichold, 4. Auflage 2018, § 41 Rn. 14. Zur Doppelwirkung des Arbeitszeitrechts s. nur: Hahn/Pfeiffer/Schubert, Fn. 2, § 7 Rn. 100. 63 ErK/Wank, Fn. 2, § 16 ArbZG Rn. 2; Neumann/Biebl, Fn. 2, § 16 Rn. 4; Baeck/Deutsch, Fn. 2, § 16 Rn. 39; Anzinger/Koberski, Fn. 2, § 16 Rn. 16. 26
26

Zusammenhang stehende Vorgänge oder Tatsachen zu informieren. 64 Das könnte sich auf eine Unterrichtung über die in einem bestimmten Zeitabschnitt geleistete Arbeitszeit erstrecken lassen, was im Vorfeld voraussetzt, dass diese erst einmal aufgezeichnet wird. Bedenken bleiben dennoch, weil es alleine mit der Feststellung, dass eine Aufzeichnungspflicht besteht, noch lange nicht getan ist. Vielmehr müssten zahlreiche Einzelfragen geklärt werden, nämlich all diejenigen, die im nachfolgenden Abschnitt IV angesprochen werden (betroffene Unternehmen, aufzuzeichnende Parameter, Art und Weise der Datenerhebung, Aufzeichnungsfrequenz, Delegationsmöglichkeit an den Arbeitgeber, Ausnahmen usw.). Folglich müssten die Gerichte in einem ganz erheblichen Umfang rechtsschöpfend tätig werden. Das erschiene mit Rücksicht auf Art. 20 Abs. 3 GG bedenklich. Zudem würde bis zu einschlägigen Entscheidungen durch das BAG die Rechtslage in hohem Maße unübersichtlich. Es droht eine konturenlose Durchbrechung des geltenden Rechts. β) Konsequenzen eines Verstoßes (1) Aufzeichnungsanspruch der Beschäftigten, Zurückbehaltungs- und Beschwerderechte Das Zivilrecht hält kaum geeignete Mechanismen bereit, um einen Verstoß des Arbeitgebers gegen die Zeiterfassungspflicht sanktionieren zu können (s. dazu auch IV.4.f.). Zwar könnten die Beschäftigten den Arbeitgeber gerichtlich auf Erfassung seiner Arbeitszeiten in Anspruch nehmen. Indes erscheint außerordentlich unwahrscheinlich, dass Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer dies tun werden. Mithin ist erneut daran zu erinnern, dass der Gerichtshof darauf hinweist, dass der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist und es deshalb verhindert werden muss, dass der Arbeitgeber 65 ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann. 66 Ob Beschäftigte gleich ihre Arbeitsleistung nach § 273 BGB (bzw. §§ 323, 618 BGB ) verweigern können, nur weil der Arbeitgeber kein Zeiterfassungssystem eingerichtet hat, erscheint fraglich. Zwar ist es allgemeine Auffassung, dass Beschäftigte berechtigt sind, ihre Arbeitsleistung zurückzuhalten, wenn der Arbeitgeber von ihm nach dem ArbZG unzulässige Arbeitseinsätze verlangt. 67 Das setzt aber nach herkömmlicher Auffassung einigermaßen qualifizierte Verstöße gegen das ArbZG voraus, wie etwa eine Überschreitung der Höchstarbeitszeit, die unzulässige Anordnung von Nachtarbeit oder die Nichtgewährung von 64 HWK/Thüsing, Fn. 2, § 611a Rn. 398 f., 400 ff. 65 EuGH (Fn. 1) Rn. 56. 66 Eine Abgrenzung der Rechtsgrundlage ist hier nicht erforderlich. 67 Im Ergebnis BAG 11.7.2006, 9 AZR 519/05, NZA 2007, 155; ErfK/Wank, Fn. 2, § 618 Rn. 13; Buschmann/Ulber, Fn. 3, § 1 Rn. 14 sowie §§ 6 Rn. 8 u 11 Rn. 6; Hahn/Pfeiffer/Schubert/Jerchel, Fn. 2, § 3 Rn. 43; Anzinger/Koberski, Fn. 2, § 1 Rn. 42 ff. 27
27

Ersatzruhetagen. Mithin besteht ein Leistungsverweigerungsrecht wohl nicht schon dann, wenn der Arbeitgeber lediglich die formalen Dokumentationspflichten des Arbeitszeitrechts nicht beachtet, sich aber „inhaltlich“ noch in dessen Rahmen bewegt. Eventuell können sich Beschäftigte an die zuständige Stelle im Betrieb oder an den Betriebsrat wenden: §§ 84, 85 BetrVG, § 612a BGB. Gegebenenfalls ist eine Beschwerde an die Aufsichtsbehörde möglich: vgl. § 17 Abs. 2 S. 2 ArbSchG. Das alles mag in Einzelfällen etwas bewirken; das Arbeitsleben insgesamt lässt sich so jedoch nicht gestalten. (2) Schadensersatz Möglicherweise können Beschäftigte vom Arbeitgeber Schadensersatz fordern, sollte dieser die Arbeitszeit nicht aufgezeichnet haben. Als Anspruchsgrundlage kommen die §§ 611a, 241 Abs. 2, 283, 280 Abs. 1, 249 oder auch die §§ 618, 241 Abs. 2, 280 BGB in Betracht. Zudem ist auf das Fuß-Urteil des EuGH 68 hinzuweisen, in dem sich der EuGH allerdings an der Grenze von Staatshaftungsrecht und einer Haftung des einzelnen Arbeitgebers bewegt, der gegen das Arbeitszeitrecht verstößt. Danach ist, wenn die wöchentliche Arbeitszeit einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers im Schnitt über 48 Stunden liegt, dem Grunde nach ein Ersatzanspruch denkbar. Verpflichtet sind allerdings ausschließlich öffentliche Arbeitgeber. Indes dürfte sich eine Berufung auf Schadensersatzansprüche regelmäßig als fruchtlos erweisen, weil die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer durch den Verstoß gegen die Aufzeichnungspflicht keinen ersatzfähigen Schaden erleiden wird. Beschäftigte haben nämlich noch keinen Schaden, nur weil der Arbeitgeber deren Arbeitszeiten nicht aufzeichnet. Das wäre wohl noch nicht einmal der Fall, wenn es dem Arbeitgeber erst dadurch ermöglicht wurde, Arbeiten in einem unzulässigen Umfang anzuordnen. Vielleicht mag man in einer solchen Konstellation zwar einen hinreichenden Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die Aufzeichnungspflicht und der unzulässigen Mehrarbeit begründen wollen. Dessen ungeachtet erwächst den Beschäftigten daraus aber immer noch kein Schaden, solange ihnen die unzulässige Mehrarbeit nur ausreichend vergütet worden ist. So lässt es auch der EuGH in der Rechtssache Fuß zu, den Schaden bei einem Verstoß gegen die Höchstarbeitszeit durch Freizeitausgleich oder in Form einer finanziellen Entschädigung zu kompensieren, deren Berechnung den Mitgliedstaaten 68 EuGH 25.11.2010, C-429/09, Fuß II, NZA 2011, 53 = ECLI:EU:C:2010:717 Rn. 70 28
28

überlassen wird. Im Beamtenrecht sind dabei lediglich die konkret geleisteten Dienststunden gemäß den Grundsätzen der Mehrarbeitsvergütung zu vergüten. 69 (3) Durchschlagen auf die vergütungsrechtliche Ebene Schließlich lässt sich diskutieren, ob die Aufzeichnungspflicht nicht über das Vergütungsrecht in das nationale Recht eingebracht werden könnte. Auch das erscheint nicht erfolgversprechend. Die Arbeitszeitrichtlinie dient der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer, trifft aber – wie das europäische Arbeitsrecht insgesamt – keine Aussagen zur Vergütung der Arbeitszeit (vgl. Art. 153 Abs. 5 AEUV). Darauf weist auch der EuGH in seiner 70 arbeitszeitrechtlichen Judikatur auch immer wieder hin. Allerdings finden sich in der Rechtsprechung des EuGH auch Entscheidungen, die Vorfragen für einen nach nationalem Recht zu beurteilen Vergütungsanspruch ansprechen. Zu erinnern 71 ist etwa an die Urteile Fuß 72 und Matzak. Aber auch darüber hinaus bezieht sich die fehlende Kompetenz des Unionrechts zur Vergütung auf die Festlegung der Vergütungshöhe, nicht aber auf Umstände, die nur mittelbar auf diese einwirken. Das zeigt etwa die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu mindestlohnwirksamen Vergütungsbestandteilen im 73 Entsenderecht , aber auch die zur Vergütungsdiskriminierung von Teilzeitkräften. 74 Dennoch lässt sich die Aufzeichnungspflicht nicht über das Vergütungsrecht in das nationale Recht übernehmen, weil offen wäre, welche konkreten Konsequenzen sich daraus ergeben sollen. Denkbar wäre, dass der Arbeitgeber sich gegen Vergütungsforderungen nicht unter Berufung auf eine (ansonsten zulässige) Ausschlussklausel verteidigen kann (§ 242 BGB, Treuwidrigkeit), wenn er die Arbeitszeit nicht aufgezeichnet hatte. 75 Das aber dürfte nur wenig Bedeutung erlangen. 69 BVerwG 20.7.2017, 2 C 31/16, NVwZ 2018, 419. 70 EuGH 3.10.2000, C-303/98, Simap, NZA 2000, 1227 (1230) Rn. 49 = ECLI:EU:C:2000:528; 9.9.2003, C- 151/02, Jaeger, NZA 2003, 1019 (1022) Rn. 67 = ECLI:EU:C:2003:437; 1.12.2005, C-14/04, Dellas, NZA 2006, 89 (90) Rn. 38 = ECLI:EU:C:2005:728; Beschluss v. 11.1.2007, C-437/05, Vorel Rn. 32 = ECLI:EU:C:2007/23; Beschluss v. 4.3.2011, C-258/10, Grigore Rn. 63 = ECLI:EU:C:2011:122; 10.9.15, C-266/14, CC.OO., NZA 2015, 1177 (1180) Rn. 48 = ECLI:EU:C:2015:578; 26.7.2017, C-175/16, Hälvä, NZA 2017, 1113 (1114) Rn. 24 = ECLI:EU:C:2017:617; 21.2.2018, C-518/15, Matzak, NZA 2018, 293 (294) Rn. 24 = ECLI:EU:C:2018:82. 71 EuGH 25.11.2010, C-429/09, Fuß II, NZA 2011, 53 = ECLI:EU:C:2010:717. 72 EuGH 21.2.2018, C-518/15, Matzak Rn. 23 ff., NZA 2018, 293 = ECLI:EU:C:2018:82. 73 EuGH 12.2.2015, C-396/13, Elekrobudowa, NZA 2015, 345 = ECLI:EU:C:2015:86. EuGH 7.11.2013, C- 522/12, Isbir, NZA 2013, 1359 (1361) Rn. 38 = ECLI:EU:C:2013:711. EuGH 14.4.2005, C-341/02, Kommission/Deutschland, NZA 2005, 573 (575) Rn. 39 = ECLI:EU:C:2005:220. 74 EuGH 13.9.2007, C-307/05, Del Cerro Alonso, NZA 2007, 1223 (1126) Rn. 47 = ECLI:EU:C:2007:509. 75 MHdb ArbR/Schüren, Fn. 54, § 44 Rn. 70 – zur Vertrauensarbeitszeit. 29
29

Eventuell käme ein beweisrechtlicher Ansatz in Betracht. Grundsätzlich haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine zeitbezogene Vergütung fordern, im Einzelnen darzulegen und zu beweisen, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten sie gearbeitet haben. Arbeiten sie über die Grundarbeitszeit hinaus und fordern sie die Abgeltung von Überstunden, müssen sie die Zeiten konkretisieren, die sie über die übliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet haben. 76 Bislang anerkannt ist aber nur, dass wenn eine Aufzeichnungspflicht besteht, vermutet wird, dass die jeweils notierten Zeiten auch tatsächlich geleistet wurden. 77 Indes ist noch nicht vertreten worden, dass, sollte der Arbeitgeber rechtswidrig nicht aufgezeichnet haben und die Beschäftigten später in einem bestimmten Umfang eine Vergütung fordern, vermutet werden müsste, dass die von ihnen behauptete Arbeitszeit auch tatsächlich geleistet wurde. Eine derart weitreichende Umkehrung der Darlegungs- und Beweislast wäre aber kaum verhältnismäßig. Der Arbeitgeber würde sich dann bei einer Missachtung der Zeiterfassungspflicht der Gefahr uferloser Zahlungsansprüche ausgesetzt sehen. Mit gutem 78 Grund hat die Rechtsprechung den Anspruch auf die Vergütung von Überstunden stets ohne Rücksicht auf deren Erfassung nach § 16 Abs. 2 ArbZG geprüft. 76 79 S. nur: BAG 21.12.2016, 5 AZR 362/16, NZA-RR 2017, 233, Rn. 25 ff.; BAG 23.9.2015, 5 AZR 767/13, NZA 2016, 295 (299) Rn. 42 ff; 10. 4. 2013, 5 AZR 122/12, NZA 2013, 1100; 18.4.2012, 5 AZR 248/11, NZA 2012, 998; ErfK/Preis, Fn. 2, § 611a Rn. 492 ff. u 612 Rn. 44; MüKo-BGB, 7. Aufl. (2016), §§ 611 Rn. 12 u. 612 Rn. 38a; Schaub-ArbR-Handbuch/Linck, Fn. 26, § 51 Rn. 8. 77 BAG 21.12.2016, 5 AZR 362/16, NZA-RR 2017, 233, Rn. 25 ff.; i.E. ähnlich: BAG, Urt. v. 23.9.2015, 5 AZR 767/13, NZA 2016, 295. 78 Bei solchen muss es sich nicht zwingend um Mehrarbeit iSd. § 3 ArbZG handeln. Indes wird das bei Vollzeitarbeitsverhältnissen regelmäßig der Fall sein. 79 Sittard/Esser, jM 2019, 284, 287. 30
30

Zur nächsten Seite