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Aktenzeichen
2 V 959/11
Datum
22. August 2011
Gericht
Verwaltungsgericht Bremen
Gesetz
Informationsfreiheitsgesetz Bremen (BremIFG)
Informationsfreiheitsgesetz Bremen (BremIFG)

Beschluss: Verwaltungsgericht Bremen am 22. August 2011

2 V 959/11

Vor dem Hintergrund der in Kürze ablaufenden Frist für die Wahlanfechtung ordnet das Verwaltungsgericht an, unter Aufsicht Einsicht in die Wahlniederschriften mit Anlagen zur Wahl der Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven zu gewähren. Das Informationsfreiheitsgesetz findet auf Wahlorgane Anwendung, wenn sich deren Tätigkeit nicht mehr unmittelbar auf den Wahlvorgang bezieht, sondern es sich bei der Aufbewahrung von Wahlunterlagen schlichtes Verwaltungshandeln zum Inhalt hat. Der Grundsatz der geheimen Wahl bleibt gewährleistet; da die Wahlentscheidungen der Bürger nicht bekannt werden. In Zweifelsfällen im Hinblick auf das Wahlergebnis kann es zudem gerechtfertigt sein, dem Anspruch auf Information Vorrang zu geben vor datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten oder dem Wahlgeheimnis, wenn dieses auch darauf zu erstrecken ist, wer an der Wahl teilgenommen hat. (Quelle: LDA Brandenburg)

Anwendungsbereich/ Zuständigkeit (Gesetzliche) Geheimhaltungspflichten Konkurrierende Rechtsvorschriften

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Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Az.: 2 V 959/11 Beschluss In der Verwaltungsrechtssache gegen hat das Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 2. Kammer - durch Richter Kramer, Richterin Feldhusen und Richterin Twietmeyer am 22. August 2011 beschlossen: Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen An- ordnung aufgegeben, ab Mittwoch, den 24.08.2011, 9.00 Uhr, der Antragstellerin während der Geschäftszeiten unter Auf- sicht Einsicht in die Wahlniederschriften mit Anlagen zur Wahl der Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven am 22.05.2011 zu gewähren. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin. Der Streitwert wird zum Zwecke der Kostenberechnung auf 5.000,00 Euro festgesetzt. Gründe Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet. Die Antragstellerin hat als Wählervereinigung an der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven am 22.05.2011 teilgenommen. Nach dem amtlich festgestellten Wahlergebnis entfielen auf sie drei Sitze in der Stadtverordnetenversammlung. Nach dem Vortrag der An- tragstellerin hätten bereits alle fünf Stimmen von 25 Wählern für sie ausgereicht, um einen
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-2- vierten Sitz in der Stadtverordnetenversammlung zu erlangen und damit Fraktionsstatus zu erlangen. Die Antragstellerin erwägt einen Einspruch gegen das Wahlergebnis gemäß § 47 Abs. 2 BremWahlG. Die Frist hierfür läuft gemäß § 47 Abs. 3 Satz 1 BremWahlG innerhalb eines Monats nach Bekanntmachung des endgültigen Wahlergebnisses ab. Das endgültige Ergeb- nis der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung der Stadt Bremerhaven wurde im Amtsblatt der Freien Hansestadt Bremen Nr. 81 vom 29.07.2011, S. 822- 829 bekanntgemacht. Das Ende der Frist ist daher 29.08.2011. Mit Schreiben vom 23.06.2011 hatte die Antragstellerin beim Wahlamt der Antragsgegnerin einen Antrag auf Einsichtnahme in die Wahlniederschriften gemäß § 1 Abs. 2 Bremer Informa- tionsfreiheitsgesetz (BremIFG) gestellt, der zuständigkeitshalber an den Stadtwahlleiter Bre- merhaven weitergeleitet wurde. Dieser lehnte den Antrag mit Schreiben vom 05.07.2011 ab. Der am 11.08.2011 gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO richtet sich zutreffend gegen die Stadt Bremerhaven. Der Stadtwahlleiter Bremerha- ven, der den Antrag auf Einsicht in die Wahlniederschriften abgelehnt hatte, ist nach § 42 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. § 10 Abs. 1 Nr. 2 BremWahlG Wahlorgan für die Durchführung der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung. Er wird gemäß § 42 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1 BremWahlG vom Magistrat Bremerhaven ernannt. In der Funktion als Stadt- wahlleiter ist er eine Institution der Stadt Bremerhaven. Der Stadtwahlleiter ist im hier anhän- gigen Verfahren nicht selber beteiligungsfähig im Sinne des § 61 VwGO. Er ist weder eine juristische Person noch eine prozessfähige Vereinigung. Eine Beteiligungsfähigkeit von Be- hörden nach § 61 Nr. 3 VwGO scheidet aus, weil bremisches Landesrecht dieses nicht vor- sieht. Nach dem Rechtsträgerprinzip kann sich der Antrag entsprechend § 78 VwGO daher nur gegen die öffentlich-rechtliche Körperschaft richten, für die der Stadtwahlleiter handelt. Das ist die Stadt Bremerhaven. Die Wahlniederschriften werden nach Abschluss des Wahlverfahrens im Statistischen Amt und Wahlamt Bremerhaven und damit bei einer Gemeindebehörde aufbewahrt. Nach § 67 Abs.1, Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 58 Abs. 7 Satz 2 BremLWO hat die Gemeindebehörde dem Stadt- wahlleiter die Wahlniederschriften mit den Anlagen zu übersenden. Anschließend ist der Stadtwahlleiter verantwortlich für die Wahlniederschriften. Wenn er sich für die Aufbewahrung der Wahlunterlagen einer Gemeindebehörde im Wege der Verwaltungshilfe bedient, ändert das nichts an seiner Zuständigkeit. Das Wahlamt der Stadt Bremerhaven ist nicht befugt, über Anträge auf Einsicht in die Wahlniederschriften zu entscheiden. Das kommt allein dem nach den wahlrechtlichen Vorschriften Verantwortlichen, hier dem Stadtwahlleiter zu. -3-
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-3- Die Antragstellerin ist beteiligungsfähig. Als eine Wählervereinigung hat sie im Hinblick auf sie betreffende Wahlvorgänge die gleiche prozessuale Stellung wie eine Partei (§ 61 Nr. 2 VwGO). Ein Anordnungsgrund liegt vor. Angesichts der in Kürze ablaufenden Frist für die Wahlanfech- tung, innerhalb derer auch der Einspruch nach § 47 Abs. 3 Satz 1 BremWahlG zu begründen ist, kann die Antragstellerin nicht darauf verwiesen werden, die Einsicht in die Wahlnieder- schriften zu einem späteren Zeitpunkt vorzunehmen. Dieses rechtfertigt hier auch eine Vor- wegnahme der Hauptsache, da sonst Rechte, die die Antragstellerin zur Vorbereitung einer eventuellen Wahlanfechtung in Anspruch nehmen wollen, vereitelt würden. Der Antragstellerin steht auch ein Anordnungsanspruch zu. Hierzu hat das erkennende Ge- richt bereits im Hinblick auf die nach dem Bremer Informationsfreiheitsgesetz begehrte Ein- sichtnahme in Wahlniederschriften zur Bürgerschaftswahl in Bremen im Beschluss vom 05.07.2007 (2 V 1731/97 – in NVwZ-RR 2008, 417 und in DÖV 2007, 846) ausgeführt: „Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BremIFG hat jeder nach Maßgabe dieses Gesetzes gegen- über den Behörden des Landes einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informatio- nen. „Jeder“ sind natürliche Personen – hier die Antragsteller zu 2. und zu 3. –, aber auch eine Wählervereinigung wie die Antragstellerin zu 1. (siehe hierzu Ber- ger/Roth/Scheel, Komm. z. IFG, zu § 1, Rdnrn. 9, 12 – 15). Der Wahlbereichsleiter Bremerhaven ist unabhängiges Wahlorgan, aber zugleich auch Behörde im funktionalen Sinne. Entscheidend dafür ist, dass sich die Tätigkeit als Wahrnehmung einer im öffentlichen Recht wurzelnden Verwaltungsaufgabe und nicht als Rechtsprechung oder Rechtsetzung darstellt (Berger/Roth/Scheel a.a.O., zu § 1, Rdnr. 26). Es kann hier offen bleiben, ob andere Befugnisse des Wahlbereichsleiters Bremerhaven im Zusammenhang mit der Durchführung der Wahl nicht als Wahrneh- mung von Verwaltungsaufgaben anzusehen sind. Die in seiner Verantwortung liegen- de Verwahrung der Wahlunterlagen ist jedenfalls eine Verwaltungstätigkeit. Selbst wenn er nicht als Behörde im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 BremIFG anzusehen wäre, wäre er ein sonstiges Landesorgan nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BremIFG, der Adressat ei- nes Informationsanspruchs sein kann, soweit er öffentlich-rechtliche Verwaltungsauf- gaben wahrnimmt. Das ist hinsichtlich der Zuständigkeit für die Aufbewahrung der Wahlniederschriften der Fall. Die Anwendung des BremIFG ist auch nicht durch das BremWahlG oder die Brem- LWahlO als Sonderrecht ausgeschlossen. Die wahlrechtlichen Bestimmungen regeln nicht den Informationszugang hinsichtlich der Wahlunterlagen. Das BremIFG ist dem- gegenüber umfassend angelegt. In der amtlichen Begründung (Bremische Bürger- schaft Drs. 16/1000 S. 3) heißt es zum Gesetzeszweck: „Demokratie lebt vom Prinzip Öffentlichkeit als Voraussetzung für die demokra- tische Willensbildung und damit für demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens, aber auch für eine effektive Kontrolle staatlichen Handelns. Das bisherige restriktive Akteneinsichtsrecht genügt diesem Prinzip nur unvollkommen. Bürgerinnen und Bürger sollen um- -4-
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-4- fassenden Zugang zu Informationen über öffentliche Vorgänge haben, um sich kundig zu machen und ein eigenes Urteil zu bilden, damit sie entsprechend dem Konzept der „Aktiven Bürgerstadt Bremen“ diese Vorgänge mitgestalten können.“ Es sollen nach den gesetzgeberischen Intentionen prinzipiell alle Verwaltungstätigkei- ten erfasst werden. Das BremIFG enthält keinen Vorbehalt im Hinblick auf Wahlvor- gänge. Soweit in § 1 Abs. 3 BremIFG bestimmt ist, dass Regelungen in anderen Rechtsvorschriften über den Zugang zu amtlichen Informationen vorgehen, sind damit nur solche gemeint, die weitergehende Ansprüche auf Informationszugang gewähren (amtliche Begründung, a.a.O, zu § 1, S. 9). Die Bestimmungen des BremWahlG und der BremLWahlO enthalten solche Regelungen nicht. Letztlich gilt hier auch das Prin- zip, dass das jüngere Gesetz Anwendungsvorrang vor dem älteren hat. Allerdings ist das Informationszugangsrecht nach § 3 BremIFG eingeschränkt, wenn dieses zum Schutz besonderer öffentlicher Belange erforderlich ist. Ein Anspruch auf Informationszugang besteht nach § 3 Nr. 4 BremIFG nicht, wenn die Information einer durch Rechtsvorschrift geregelten Geheimhaltungspflicht unterliegt. Einschlägig ist in- soweit das durch Art. 75 Abs. 1 BremLVerf garantierte Wahlgeheimnis. Der Informati- onszugang kann demzufolge nicht gewährt werden, wenn die Wahrung des Wahlge- heimnisses entgegensteht. Insoweit ist zu differenzieren. Bürger, die lediglich aus allgemeinem Informationsinteresse Wahlunterlagen einsehen wollen, können dieses nur, soweit dieses mit dem Wahlgeheimnis zu vereinbaren ist. Sie haben keinen Anspruch auf Zugang zu Informationen, die personenbezogene Da- ten von Wählern beinhalten oder zu anderen Vorgängen, die dem Wahlgeheimnis un- terliegen. Diese Einschränkung gilt aber nicht für Antragsteller, die eine Wahlanfechtung aus plausiblen Gründen in Betracht ziehen. Das Wahlgeheimnis ist nicht absolut geschützt. Im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens nach §§ 37 ff. BremWahlG ist Wahlvorgän- gen nachzugehen, die prinzipiell dem Wahlgeheimnis unterliegen. Eine solche Wahl- prüfungsmöglichkeit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung als geboten angesehen. In dem Beschluss vom 12.12.1991 (2 BvR 562/91 in BVerfGE 85, 148) heißt es: „Der Wahlgesetzgeber muß in Rechnung stellen, dass den Wahlorganen in Einzelfällen Zählfehler – unter Umständen auch mandatsrelevante Zählfehler – unterlaufen. Er hat deshalb ein Verfahren zu schaffen, das es erlaubt, Zweifeln an der Richtigkeit der von den Wahlorganen vorgenommenen Stimmenauszäh- lung nachzugehen und erforderlichenfalls das Wahlergebnis richtigzustellen sowie die Sitzverteilung zu korrigieren. Das verlangt nicht nur das aus dem Demokratieprinzip folgende Gebot einer dem Wählerwillen entsprechenden Sitzverteilung, sondern zugleich auch das Recht von Wahlberechtigten und Wahlbewerbern auf Wahlgleichheit.“ Nach der angeführten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben die Wahlprüfungsorgane den Sachverhalt durch geeignete Ermittlungen aufzuklären. In- soweit besteht keine Einschränkung durch das Wahlgeheimnis. Von wesentlicher Be- deutung ist dabei, wie knapp das mit einem Wahleinspruch in Zweifel gezogene Wahl- ergebnis ausgefallen ist. Diese verfassungsrechtlichen Erwägungen müssen auch Gel- tung für die Vorbereitung einer Wahlanfechtung haben. Die Antragsteller sind durch die knappste aller denkbaren Wahlentscheidungen betroffen. Angesichts des Umstan- des, dass sie einen Einspruch substanziiert zu begründen haben, muss im Hinblick auf den ihnen nach dem BremIFG grundsätzlich zustehenden Informationszugang hin- -5-
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-5- sichtlich der Wahlniederschriften nebst Anlagen hier das Wahlgeheimnis zugunsten der mit einer Wahlanfechtung verfolgten Interessen zurücktreten, wobei das durch ei- nen Einspruch eingeleitete Wahlprüfungsverfahren im Ergebnis der korrekten Entspre- chung des Wählerwillens und damit einem demokratischen Grundprinzip dient. Die zeitliche Vorgabe ist erforderlich, damit die Einsichtnahme seitens des Wahlbe- reichsleiters Bremerhaven vorbereitet werden kann. Dass die Einsichtnahme nur unter Aufsicht zu erfolgen hat, folgt aus der generellen Pflicht zum Schutz der Wahlunterlagen (§ 56 Abs. 3 BremLWahlO). Klarzustellen ist in diesem Zusammenhang, dass die Antragsteller als Befugte einsehen und sie dabei gegebenenfalls auch ihren Bevollmächtigten zuziehen oder sich durch ihn vertreten lassen können.“ An den grundsätzlichen Ausführungen wird auch im Hinblick auf die begehrte Einsichtnahme in die Wahlniederschriften zur Wahl der Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven fest- gehalten. Die vorstehend wiedergegebene Rechtsprechung des Gerichts ist zwar nicht in der Begrün- dung, aber im Ergebnis auf Zustimmung in der wahlrechtlichen Kommentarliteratur gestoßen. Unter Hinweis auf den Beschluss des VG Bremen, NVwZ-RR 2008, 417, ist in Schreiber, Komm. z. BWahlG, 8. Aufl., zu § 8, Rdnr. 1 ausgeführt: „Das IFG erfasst nicht die Tätigkeit selbständiger und von sachlichen Weisungen der staatlichen Exekutive unabhängiger Wahlorgane des Bundes und die bei ihnen anfal- lenden Informationen. Auch das BWahlG und die BWahlO können insoweit nicht he- rangezogen werden, da sie keine einschlägigen Informationszugangsregelungen ent- halten (vgl. § 1 Abs. 3 IFG). Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass es kein aus- drückliches gesetzliches Informations-Zugangsverbot gibt sowie dass die Wahlorgane in öffentlicher Sitzung verhandeln, beraten und entscheiden (§ 10 Abs. 1 Satz 1) und über die Sitzungen Niederschriften zu fertigen sind (§§ 5 Abs. 7, 72 Abs. 1 BWahlO). Deshalb ist, sofern eine berechtigtes Interesse des Antragstellers auf Informationszu- gang zu einer das Wahlverfahren oder ein Wahlprüfungsverfahren betreffenden Ange- legenheit (Antrag auf mündliche oder schriftliche Auskunftserteilung, Akteneinsicht, Er- teilung von Auszügen aus Niederschriften und dgl.) vorliegt, über den Antrag nach all- gemeinen Ermessensgrundsätzen (pflichtgemäßem Ermessen) zu entscheiden. Das bedeutet, dass in der Regel insbesondere solchen Auskunftsersuchen Rechnung zu tragen sein dürfte, bei denen es um aus einer Niederschrift sich ergebende Informatio- nen über öffentliche Verhandlungen, Beratungen und Entscheidungen geht oder die Gegenstand dieser öffentlichen Aktivitäten waren.“ Das erkennende Gericht ist allerdings der Auffassung, dass die Entscheidung über die Ein- sichtnahme nach dem BremIFG nicht im Ermessen des Stadtwahlleiters steht. Das Bremer Informationsfreiheitsgesetz findet zwar auch nach Ansicht des Gerichts keine Anwendung auf die Tätigkeit der Wahlorgane bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen. Die Wahlorgane nehmen hier als Einrichtungen gesellschaftlicher Selbstorganisation -6-
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-6- der Aktivbürger keine Verwaltungsgeschäfte wahr, sondern organisieren die demokratische Willensbildung (Schreiber, a.a.O., zu § 8, Rdnr. 1, zu § 35, Rdnr. 9). Davon zu unterscheiden ist aber die Tätigkeit der Wahlorgane, die sich nicht mehr unmittelbar auf den Wahlvorgang bezieht, sondern wie bei der bloßen Aufbewahrung von Wahlunterlagen schlichtes Verwaltungshandeln zum Inhalt hat. Bei der Verwahrung solcher Unterlagen han- delt es sich um die Wahrnehmung einer öffentlich-rechtlichen Verwaltungsaufgabe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 BremIFG. Wenn der Informationszugang nicht nach § 3 BremIFG aus- geschlossen ist, besteht nach § 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 BremIFG ein Rechtsanspruch auf den Zugang zu den amtlichen Informationen, hier durch Einsicht in die Wahlniederschriften. Ein Ausschluss des Anspruchs auf Informationszugang nach § 3 BremIFG ist nicht zu beja- hen. Der Grundsatz der geheimen Wahl (§ 42 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 Brem- WahlG) führt hier zu keinem Entfall des Anspruchs auf Informationszugang nach § 3 Nr. 4 BremIFG. Durch die beantragte Einsicht in die Wahlniederschriften ist das Wahlgeheimnis im Kern nicht tangiert. Der Grundsatz der geheimen Wahl soll gewährleisten, dass unbekannt bleibt, welche Wahlentscheidung der Wahlberechtigte getroffen hat. Die Geheimhaltung der Wahlentschei- dung dient in erster Linie dem Schutz vor politischem oder sonstigem Druck von außen (Schreiber, a.a.O., zu § 1, Rdnrn. 95, 96). Durch die Einsichtnahme in die Wahlniederschriften werden der Antragstellerin die gültigen Wahlentscheidungen der Bürger aber nicht bekannt. Ob eine von der Antragstellerin ursprünglich auch begehrte Einsichtnahme in die als ungültig behandelten Stimmzettel Bedenken im Hinblick auf die Wahrung des Wahlgeheimnisses hätte aufwerfen können, kann dahinstehen, denn den diesbezüglichen Antrag hat die Antragstelle- rin im gerichtlichen Verfahren nicht weiterverfolgt. In diesem Zusammenhang ist ferner zu beachten, dass nach § 67 Abs. 1 i.V.m. § 50 a BremLWO während der Zulassung der Wahlbriefe, der Zählung der Wähler sowie der Ermitt- lung und Feststellung des Wahlergebnisses Öffentlichkeit besteht. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich betont, dass der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungs- rechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen (BVerfG, Urteil vom 03.03.2009 – 2 BvR 3, 4/07 in BVerfGE 123, 39). In dieser Entscheidung heißt es: -7-
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-7- „Die Öffentlichkeit der Wahl ist Grundvoraussetzung für eine demokratische Willensbil- dung. Sie sichert die Ordnungsgemäßheit und Nachvollziehbarkeit der Wahlvorgänge und schafft damit eine wesentliche Voraussetzung für begründetes Vertrauen der Bür- ger in den korrekten Ablauf der Wahl. Die Staatsform der parlamentarischen Demokra- tie, in der die Herrschaft des Volkes durch Wahlen mediatisiert, also nicht dauernd unmittelbar ausgeübt wird, verlangt, dass der Akt der Übertragung der staatlichen Ver- antwortung auf die Parlamentarier einer besonderen öffentlichen Kontrolle unterliegt. Die grundsätzlich gebotene Öffentlichkeit im Wahlverfahren umfasst das Wahlvor- schlagsverfahren, die Wahlhandlung (in Bezug auf die Stimmabgabe durchbrochen durch das Wahlgeheimnis) und die Ermittlung des Wahlergebnisses. … Die Verpflich- tung von Legislative und Exekutive, dafür zu sorgen, dass das Wahlverfahren verfas- sungsgemäß gestaltet und ordnungsgemäß durchgeführt wird, reicht zur Vermittlung der notwendigen Legitimität für sich genommen nicht aus. Nur wenn sich das Wahlvolk zuverlässig selbst von der Rechtmäßigkeit des Übertragungsaktes überzeugen kann, wenn die Wahl also „vor den Augen der Öffentlichkeit“ … durchgeführt wird, kann das für das Funktionieren der Demokratie und die demokratische Legitimität staatlicher Entscheidungen notwendige Vertrauen des Souveräns in die dem Wählerwillen ent- sprechende Besetzung des Parlaments gewährleistet werden. … Die Öffentlichkeit der Wahl ist auch im Rechtsstaatsprinzip angelegt. Rechtsstaatlich begründete Öffentlich- keit dient der Transparenz und Kontrollierbarkeit staatlicher Machtausübung. Sie setzt voraus, dass die Handlungen der staatlichen Organe von den Bürgern zur Kenntnis genommen werden können. Dies gilt auch hinsichtlich der Tätigkeit der Wahlorgane. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtli- che Belange eine Ausnahme rechtfertigen. Dabei kommt der Kontrolle der Wahlhand- lung und der Ermittlung des Wahlergebnisses eine besondere Bedeutung zu.“ Wenn die Antragstellerin vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund nach dem BremIFG Einsicht in Wahlniederschriften begehrt, die im Wesentlichen das beinhalten, was in öffentli- cher Auszählung von den jeweiligen Wahlorganen festgestellt wurde, kann dem das Wahlge- heimnis nicht als Hinderungsgrund entgegengehalten werden. Soweit die Antragsgegnerin Einwände hinsichtlich der Anlagen zu den Wahlniederschriften vorträgt, schlagen diese Be- denken jedenfalls dann nicht durch, wenn eine Wählervereinigung, die an der Wahl teilge- nommen hat, Zweifel an der Korrektheit des festgestellten Wahlergebnisses hat und bereits verhältnismäßig geringe Verschiebungen bei den Stimmen zu einer anderen Mandatsvergabe zu ihren Gunsten führen könnten. Das ist hier der Fall. Dass die Antragstellerin bei Einsichtnahme in die Anlagen zu den Wahlniederschriften unter Umständen auch Kenntnis von Namen und Anschriften von Wählern erlangen kann, ist ange- sichts der überragenden Bedeutung einer korrekten Wahldurchführung für die Legitimität der durch Wahl berufenen Volksvertreter hinzunehmen. Diese Kenntnisnahme erfasst auch nicht – wie ausgeführt – den Kern des Wahlvorganges, nämlich die gültige Wahlentscheidung des Bürgers, sondern einzelne problematische Begleitumstände. Die Entscheidung des Briefwahl- vorstandes, Wahlbriefe zurückzuweisen, oder die Behandlung von Wahlscheinen, Stimmzet- teln oder Stimmzettelumschlägen, über die der jeweilige Auszählwahlvorstand besonders be- -8-
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-8- schlossen hat (§ 67 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 3 bis 5 BremLWO), können Zweifelsfragen im Hinblick auf das festgestellte Wahlergebnis aufwerfen, bei denen es gerechtfertigt ist, dem Anspruch auf Information Vorrang zu geben vor datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten (z.B. wegen Namen und Anschrift von Briefwählern auf Umschlägen) oder dem Wahlgeheimnis, wenn dieses Geheimnis auch darauf zu erstrecken ist, wer an einer Wahl teilgenommen oder wer unter Umständen mit Namensnennung ungültig gewählt hat. Denn gerade die Zweifelsfäl- le können Anlass zu einer kritischen Würdigung von Wahlniederschriften bieten. Das Gericht teilt nicht die Auffassung der Antragsgegnerin, dass durch die jüngsten Novellie- rungen des Bremischen Wahlgesetzes (Gesetz vom 16.11.2010, Brem.GBl. S. 565) und der Bremischen Landeswahlordnung (Verordnung vom 14.02.2011, Brem.GBl. S. 99, ber. S. 209) der Anspruch auf Informationszugang nach dem Bremer Informationsfreiheitsgesetz ausge- schlossen worden ist. Dieses lässt sich aus den Neuregelungen nicht herleiten. Die wahlrecht- lichen Bestimmungen stellen nur insofern lex specialis gegenüber den informationsfreiheits- rechtlichen Regelungen dar, als sie ausdrücklich Einsichtsmöglichkeiten regeln. Als jüngere Normen können sie das BremIFG nur dann partiell verdrängen, wenn dieses dem Regelungs- gehalt zu entnehmen ist. Das ist aber hinsichtlich der Einsicht in Wahlniederschriften nicht zu bejahen. Die von der Antragsgegnerin angeführten Vorschriften betreffen nicht die Einsicht in Wahlnie- derschriften. § 15 Abs. 1 Satz 4 und 5 BremWahlG regelt die Einsicht in das Wählerverzeich- nis. § 102 Abs. 2 BremLWO betrifft Auskünfte aus Wähler- und anderen Verzeichnissen. Für die Einsicht in Wahlniederschriften gibt es jedoch weiterhin keine wahlrechtlichen Bestimmun- gen. Wenn der bremische Gesetzgeber insoweit die Anwendung des Bremer Informationsfrei- heitsgesetzes hätte ausschließen wollen, wäre es gerade im Zuge der Novellierungen der Wahlrechtsnormen naheliegend gewesen, insoweit eine ausdrückliche Regelung zu treffen. Diese ist nicht erfolgt. Dass insofern eine „planwidrige Unvollständigkeit“ der bremischen Wahlrechtsbestimmungen vorliege und eine solche „Gesetzeslücke“ dann im Sinne eines Ausschlusses der Anwendung des Bremer Informationsfreiheitsgesetzes im Hinblick auf die Einsichtnahme in Wahlniederschriften analog der Bestimmungen in § 15 BremWahlG und § 102 BremLWO geschlossen werden müsse, überzeugt das Gericht nicht. Es ist auch kein Verstoß gegen Bundesrecht erkennbar. Das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes (IFG) ist auf Verwaltungstätigkeiten von Landeseinrichtungen nicht anwendbar. Es ergibt sich im Übrigen auch keine sachliche Abweichung. Wenn das Bundesrecht die Anwen- dung des IFG auf die Wahlprüfung ausschließt, ist auch für das Landesrecht nichts anderes anzunehmen. Damit ist aber das formelle Verfahren der Wahlprüfung gemeint. Darum geht es hier noch nicht. Die Antragstellerin macht Informationsansprüche im Vorfeld einer eventuellen -9-
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-9- Wahlanfechtung geltend. Das Ergebnis der entsprechenden Einsicht kann durchaus sein, dass die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung von ihr gar nicht angefochten wird und da- mit auch kein formelles Wahlprüfungsverfahren stattfindet. Ein Verstoß gegen § 67 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 8 BremLWO liegt nicht vor. Danach ist durch die zuständigen Stellen sicherzustellen, dass die Wahlniederschriften mit den Anlagen Unbe- fugten nicht zugänglich sind. Die Antragstellerin ist aber nach Maßgabe des Tenors dieser Entscheidung befugt, die Wahlniederschriften einzusehen. Da dem Hauptantrag stattgegeben wird, bedarf es keiner Entscheidung über den Hilfsantrag. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG (Vorwegnah- me der Hauptsache durch das Eilverfahren). Rechtsmittelbelehrung Gegen diesen Beschluss ist - abgesehen von der Streitwertfestsetzung - die Beschwerde an das Ober- verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen statthaft. Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe dieses Beschlusses bei dem Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, (Tag-/Nachtbriefkasten Justizzentrum Am Wall im Eingangsbereich) einzulegen und innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Beschlusses zu begründen. Die Be- schwerde muss von einem Rechtsanwalt oder einem sonst nach § 67 Abs. 4 VwGO zur Vertretung berechtigten Bevollmächtigten eingelegt werden. - 10 -
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- 10 - Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Ober- verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, einzureichen. Die Beschwerde muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entschei- dung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander set- zen. Gegen die Streitwertfestsetzung ist die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht der Freien Hanse- stadt Bremen statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 Euro übersteigt oder das Verwaltungsgericht die Beschwerde zugelassen hat. Die Beschwerde ist spätestens innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Haupt- sache Rechtskraft erlangt hat oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, bei dem Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, (Tag-/Nachtbriefkasten Justizzentrum Am Wall im Eingangsbereich) schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Richterin Feldhusen, die an dem Beschluss gez. Kramer              mitgewirkt hat, ist aus dienstorganisatorischen gez. Twietmeyer Gründen an der Unterzeichnung des Beschlusses verhindert. gez. Kramer
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