Eilverfahren vor GerichtWie die Bundesagentur für Arbeit Arbeitgeber vor Sanktionen schützte

Die Arbeitsagentur soll eigentlich Arbeitgeber sanktionieren, die keine Menschen mit Schwerbehinderung anstellen. Aber bundesweit führte sie 2022 nur ein einziges Bußgeldverfahren – und wollte die Namen betroffener Unternehmen geheim halten. Bis zu unserer Klage.

- Cristina Helberg

Am 1. Januar 2024 tritt das neue „Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes“ in Kraft. Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit wird dann die Möglichkeit wegfallen, inklusionsunwillige Arbeitgeber mit einem Bußgeld zu bestrafen. Sachverständige und Sozialverbände hatten bis zuletzt für den Erhalt gekämpft.

Ein gerichtliches Eilverfahren von FragDenStaat und eine Recherche der ZEIT offenbaren jetzt, wie das Arbeitsministerium mit falschen Zahlen die Abschaffung der Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Arbeitsgebern rechtfertigte und wie selten die Bundesagentur für Arbeit die Bußgelder überhaupt verhängte.

Arbeitgeber boykottieren Quoten

Jeder Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitsplätzen muss auch Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen. So soll auf dem Arbeitsmarkt die Inklusion verbessert werden. Doch seit Jahrzehnten boykottieren viele Arbeitgeber die Quote. 45.000 Unternehmen in Deutschland beschäftigen trotz gesetzlicher Verpflichtung keinen einzigen Menschen mit Schwerbehinderung. Erst im August kritisierte ein UN-Ausschuss Deutschland dafür scharf. Das Werkstattsystem, in dem hierzulande 300.000 Menschen mit Behinderung arbeiten, schließe strukturell aus dem Arbeitsmarkt aus.

Um Druck auf Unternehmen auszuüben, Menschen mit Behinderung einzustellen, konnten Behörden bisher auch ein Bußgeld von bis zu 10.000 Euro verhängen. Das mussten Arbeitgeber zahlen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig die Beschäftigungspflicht umgingen. Die SPD-Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Kerstin Griese, glaubte selbst aber nicht an die Macht ihrer Befugnisse. Sie argumentierte im Gesetzgebungsverfahren, das Bußgeld sei ein „stumpfes Schwert“ und werde daher vom Ministerium abgeschafft. 2022 seien bundesweit nur sechs Bußgeldverfahren durchgeführt worden.

Erwerbslose werden sanktioniert, Unternehmen nicht

Die niedrige Zahl der Verfahren überrascht, zumal das BMAS die Sanktionierung erwerbsloser Menschen bei Pflichtverletzungen jedes Jahr in hunderttausenden Fällen durchsetzt. Welche sechs Unternehmen Bußgeld zahlen mussten, wollten weder das BMAS noch die für Bußgeldverfahren zuständige Bundesagentur für Arbeit (BA) auf Presseanfrage offenlegen. Ihre Begründung: Datenschutz und Geheimhaltung. Das BMAS behauptete außerdem, die Daten, auf die sich die eigene Staatssekretärin öffentlich bezogen hatte, nicht vorliegen zu haben.

Nach einem Eilantrag gemeinsam mit FragDenStaat entschied das Verwaltungsgericht Ansbach jetzt, dass die BA derartige Auskünfte an die Presse erteilen muss.

In Schreiben an das Gericht hatte die BA noch versucht, die inklusionsunwilligen Unternehmen zu schützen. Sie warnte das Gericht, eine Veröffentlichung ihrer Namen könne „naming & shaming“ in der Öffentlichkeit nach sich ziehen. In allen sechs Fällen seien bereits Bußgelder verhängt worden und die Fälle abgeschlossen.

Behörden beschneiden sich selbst

Nach dem Gerichtsbeschluss musste die BA die Namen offenlegen und sich selbst korrigieren. Offenbar hatte sie mit falschen Daten argumentiert. Selbst die wenigen sechs Bußgeldverfahren, die Griese angeführt hatte, hatte es nicht gegeben. Nur gegen ein einziges Unternehmen bundesweit wurde 2022 überhaupt ein Ermittlungsverfahren wegen der Nichtbeschäftigung von Schwerbehinderten eingeleitet. Aber ein Bußgeld verhängte die Arbeitsagentur auch in diesem Fall nicht.

Das Verfahren ist noch immer nicht abgeschlossen. Es steckt laut BA in der Anhörung fest, obwohl es um Anschuldigungen aus dem Jahr 2021 geht. Auf Nachfrage behauptet die BA, die für Unternehmenskontrollen zuständigen Teams hätten ab März 2020 bei der Bearbeitung von Kurzarbeitergeld in der Corona-Pandemie aushelfen müssen. Der Schutz von Menschen mit Behinderung war für die Bundesagentur offenbar zweitrangig.

Das vom einzigen Bußgeldverfahren bundesweit betroffene Unternehmen, eine Kommanditgesellschaft der EDEKA-Gruppe mit zwei Filialen in Schleswig-Holstein, weist die Vorwürfe zurück. Die zwei betroffenen Filialleiter geben an, es habe sich lediglich um ein Missverständnis rund um ein Formblatt gehandelt. Das sei Mitte November ohne Eröffnung eines Bußgeldverfahrens ausgeräumt worden.

Das Verwaltungsgericht in Ansbach verpflichtete die Arbeitsagentur schließlich zur Auskunft, weil „ein besonderes journalistisches und öffentliches Interesse daran besteht, durch Benennung der sechs Unternehmen einen besseren Einblick in die Schwächen des bisherigen gesetzlichen Systems und in ein naheliegendes Vollzugsdefizit seitens der Bundesagentur zu bekommen“.

Diese Schwächen sind offenbar noch größer als angenommen. Und das Vollzugsdefizit wird mit der Abschaffung des Bußgeldes gleich mit erledigt.

Der Text entstand im Rahmen eines Recherchestipendiums des Helmut Schmidt Journalistenpreises. Die Recherche erscheint zudem in der „Zeit“.

zum Gerichtsbeschluss

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Beglaubigte Abschrift
AN 14 E 23.1992




               Bayerisches Verwaltungsgericht Ansbach

In der Verwaltungsstreitsache

Cristina Helberg

                                                          - Antragstellerin -
bevollmächtigt:
PRIGGE Recht
Kasernenstr. 23, 40213 Düsseldorf

                                          gegen

Bundesagentur für Arbeit
Regensburger Straße 104, 90478 Nürnberg
                                                          - Antragsgegnerin -

                                          wegen

Film- und Presserechts
Antrag nach § 123 VwGO

erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach, 14. Kammer, durch

den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts
die Richterin am Verwaltungsgericht
den Richter


ohne mündliche Verhandlung

                                    am 2. November 2023

folgenden
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                                         Beschluss:


           1.         Die Antragsgegnerin wird dazu verpflichtet, der Antragstellerin Auskunft
                      auf die folgenden Fragen zu erteilen:


                       a)    Gegen welche Unternehmen wurde im Jahr 2022 ein Bußgeldver-
                             fahren eingeleitet, weil sie entgegen gesetzlicher Vorgaben keine
                             Menschen mit Behinderung beschäftigten?


                       b)    Wie ist der Stand der jeweiligen Bußgeldverfahren nach
                             Buchst. a)?


           2.          Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.


           3.          Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.



                                           Gründe:

                                                I.


Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Bunde-
sagentur für Arbeit (Bundesagentur) zur Auskunftserteilung im Wege eines presserechtlichen
Auskunftsanspruchs.


Die Antragstellerin ist als freie Journalistin tätig mit den Schwerpunkten Desinformation im Netz,
Machtmissbrauch und gesellschaftliche Ungleichheit. Derzeit recherchiert sie nach eigenen An-
gaben zum Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes, das am 1. Januar 2024 in
Kraft treten wird. Nach geltender Rechtslage sind Arbeitgeber einer bestimmten Größe dazu
verpflichtet, auf wenigstens 5 % der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen
(§ 154 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Wird dieser Pflicht nicht nachgekommen, stellt dies nach gelten-
der Rechtslage eine Ordnungswidrigkeit dar, die durch die Bundesagentur mit Geldbuße geahn-
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det werden kann (§ 238 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 SGB IX). Das Gesetz zur Förderung eines inklusi-
ven Arbeitsmarktes sieht die Abschaffung dieser Bußgeldregelung vor. Stattdessen sollen be-
schäftigungspflichtige Arbeitgeber, die keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäfti-
gen, eine erhöhte Ausgleichsabgabe zahlen (vgl. BT-Drs. 20/5664, S. 16).


Die Antragstellerin wandte sich per E-Mail am 2. August 2023 mit den folgenden Presseanfra-
gen an die Pressestelle der Bundesagentur:


„1.    Laut Staatssekretärin Kerstin Griese (siehe Pressemitteilung des Deutschen Bundestags
       https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-943560 vom 19.04.2023) wurden
       im Jahr 2022 sechs Bußgeldverfahren gegen Unternehmen geführt, die trotz gesetzli-
       cher Vorgaben keine Menschen mit Behinderung beschäftigen. Welche Unternehmen
       waren das und wie ist der aktuelle Stand dieser Bußgeldverfahren? Bitte geben Sie den
       jeweiligen Verfahrensstand zuordnend zu den einzelnen Unternehmen an.


2.     Laut Staatssekretärin Kerstin Griese (siehe Pressemitteilung des Deutschen Bundestags
       https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-943560 vom 19.04.2023) beschäf-
       tigen aktuell 45.000 Unternehmen in Deutschland trotz gesetzlicher Vorgaben keine
       Menschen mit Behinderung. Bitte nennen Sie mir diese 45.000 Unternehmen. Gerne
       können Sie mir die Daten als digitale Datei z. B. Excel senden.“


Die Bundesagentur lehnte daraufhin mit E-Mail vom 2. August 2023 eine Auskunft mit Verweis
auf den Datenschutz ab. Auf erneute Anfrage der Antragstellerin hin begründete die Bunde-
sagentur dies damit, dass auch Betriebsdaten laut Gesetz datenschutzwürdig und dem Sozial-
datenschutz gleichgestellt seien (mit Verweis auf § 35 Abs. 4 SGB I). Schließlich forderte die
Antragstellerin die Bundesagentur mit anwaltlichem Schreiben vom 21. August 2023 erneut zur
Auskunft auf. Daraufhin lehnte die Bundesagentur mit Schreiben vom 31. August 2023 die Aus-
kunftserteilung erneut ab.


Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 29. September 2023 hat die Antragstellerin einen
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO gestellt.
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Ein Anordnungsanspruch ergebe sich vorliegend aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Anspruch
bestehe nur nicht, soweit schutzwürdige Interessen öffentlicher Stellen oder Privater an der Ver-
traulichkeit entgegenstünden.


Das Sozialgeheimnis sei mangels Betroffenheit von personenbezogenen Daten nicht betroffen.
Es seien auch keine den Sozialdaten gleichstehenden Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse be-
troffen. Es könne schon angezweifelt werden, ob es sich bei der Information, dass ein Unter-
nehmen keine Personen mit Schwerbehinderung beschäftigt, überhaupt um eine geschäftsbe-
zogene Information handele. Ob solche Eigenschaften der Beschäftigten den erforderlichen Un-
ternehmensbezug aufwiesen oder es sich dabei in erster Linie um Informationen aus dem per-
sönlichen Lebensbereich der Beschäftigten handele, erscheine fraglich. Jedenfalls liege kein
schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse vor. Dies setze zunächst Wettbewerbsrelevanz vo-
raus. Die Wettbewerbsrelevanz lasse sich insbesondere anhand der Frage beurteilen, ob die
Kenntnis bestimmter Daten Rückschlüsse auf die Betriebsführung, die Wirtschaft- und Markt-
strategie und/oder die Kostenkalkulation und Entgeltgestaltung des Unternehmens zulasse. All
dies sei hier nicht der Fall. Jedenfalls überwiege das Informationsinteresse. Dass es sich bei
den angefragten Informationen zweifellos um Informationen über rechtswidrige Vorgänge han-
dele, führe jedenfalls dazu, dass die Interessen der betroffenen Unternehmen im Rahmen einer
Abwägung hinter der Pressefreiheit zurückstehen müssten.


Es liege auch ein Anordnungsgrund vor. Ein wesentlicher Nachteil sei in Fällen presserechtli-
cher Auskunftsansprüche anzunehmen, wenn für die begehrte Auskunft ein gesteigertes öffent-
liches Interesse sowie ein starker Gegenwartsbezug bestehe, der dazu führe, dass bei einem
Abwarten der Klärung im Hauptsacheverfahren die begehrte Auskunft ihren Nachrichtenwert
verliere und allenfalls noch von historischem Interesse sei. Da als Mittel zur Umsetzung für
mehr Inklusion die Möglichkeit eines Bußgeldverfahrens gegen Unternehmen überhaupt erst
geschaffen worden sei, bestehe ein generelles öffentliches Interesse, die Umsetzung und Effek-
tivität dieses Mittels zu beobachten. Die Bundesagentur stehe akut im Verdacht, ein Vorgehen
gegen Unternehmen, die keine schwerbehinderten Menschen beschäftigen, im großen Stil ver-
säumt zu haben. Daraus ergebe sich das gesteigerte öffentliche Interesse, zu erfahren, gegen
welche sechs Unternehmen zumindest ein Bußgeldverfahren eingeleitet wurde. Nur so könne
auch ein öffentlicher Druck auf diese Unternehmen aufgebaut werden, die inklusionsfördernden
Vorschriften einzuhalten und schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Es handele sich
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auch nicht lediglich um ein „Dauerthema“. Denn das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Ar-
beitsmarktes trete mit Wirkung zum 1. Januar 2024 in Kraft, womit ein starker Gegenwartsbe-
zug vorliege.


Die Vorwegnahme der Hauptsache sei gerechtfertigt, da die Rechtsnachteile, die die Antrag-
stellerin treffen würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, durch eine spä-
tere stattgebende Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden könnten. Wie
dargelegt käme der Berichterstattung kein Nachrichtenwert mehr zu.


Die Antragstellerin beantragt,


            die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der An-
            tragstellerin Auskunft auf die folgenden Fragen zu erteilen:


            1. Gegen welche Unternehmen wurde im Jahr 2022 ein Bußgeldverfahren eingelei-
            tet, weil sie entgegen gesetzlicher Vorgaben keine Menschen mit Behinderung be-
            schäftigten?


            2. Wie ist der Stand der jeweiligen Bußgeldverfahren nach Ziff. 1?


Die Antragsgegnerin beantragt:


            Der Antrag wird in allen Punkten abgewiesen.


Es bestehe kein Anordnungsanspruch. Der Name eines Unternehmens in Verbindung mit der
Information, ob gegen dieses Unternehmen ein Bußgeldverfahren wegen einer Ordnungswidrig-
keit durchgeführt wurde, stelle ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis dar. Ein Unternehmensbe-
zug sei gegeben. Eine Information darüber, dass ein Unternehmen keine schwerbehinderten
Menschen beschäftigt und daher gegen das Unternehmen ein Bußgeld verhängt wurde, sei
ausschließlich dem Unternehmen zuzuordnen und betreffe nicht Informationen aus dem priva-
ten Lebensbereich der Beschäftigten.
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Es bestehe ein subjektives Geheimhaltungsinteresse der Unternehmen: Es sei davon auszuge-
hen, dass auch ein Unternehmen grundsätzlich einen Geheimhaltungswillen an der Tatsache
habe, eine Ordnungswidrigkeit gleich welcher Art begangen zu haben und dafür sanktioniert
worden zu sein. Das Geheimhaltungsinteresse der Unternehmen sei aufgrund der grundsätzli-
chen Wettbewerbsrelevanz der Information objektiv berechtigt. Der Gesetzgeber habe die Buß-
geldregelung zum 1. Januar 2024 aufgehoben, woraus deutlich werde, dass der Gesetzgeber
selbst die Tatsache, dass ein Unternehmen überhaupt keine schwerbehinderten Menschen be-
schäftige, zumindest als nicht so schwerwiegend bewerte, dass dies sanktioniert werden
müsse. Hier gehe es der Antragstellerin darum, die Namen von Unternehmen zu erfahren, de-
ren rechtswidriges Verhalten bereits behördlich geahndet worden sei. Für „naming and sha-
ming“ gebe es beispielsweise in § 57 Geldwäschegesetz eine Erlaubnisnorm. Eine vergleich-
bare Erlaubnisnorm kenne das Sozialgesetzbuch nicht.


Schließlich liege kein Anordnungsgrund vor. Von einem starken Gegenwartsbezug sei nicht
auszugehen. Zum einen lägen die Sachverhalte bereits viele Monate zurück und zum anderen
datiere die Pressemitteilung des Deutschen Bundestags, auf die die Antragstellerin referen-
ziere, bereits vom 19. April 2023. Zum Zeitpunkt der ersten Kontaktaufnahme der Antragstelle-
rin mit der Pressestelle der Antragsgegnerin am 2. August 2023 sei die Pressemitteilung, auf
der die Antragstellerin ihre Berichterstattung habe aufbauen wollen, immerhin schon dreieinhalb
Monate alt gewesen. Auch sei eine umfassende Berichterstattung zum Thema Inklusionsförde-
rung des Arbeitsmarkts auch ohne Kenntnis der Namen der sechs Unternehmen, gegen die ein
Bußgeld verhängt wurde, möglich. Soweit die Antragstellerin darlege, mit einer Berichterstat-
tung durch namentliche Nennung öffentlichen Druck auf die sechs Unternehmen aufbauen zu
wollen, sei dazu festzustellen, dass es nicht vorrangige journalistische Aufgabe der Antragstel-
lerin sei, öffentlichen Druck aufzubauen. Es sei Aufgabe der Antragsgegnerin, ein Fehlverhalten
zu sanktionieren und die Unternehmen dadurch zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Die-
ser Aufgabe sei sie bereits nachgekommen.


Im Übrigen wird verwiesen auf die Behördenakte und auf die Gerichtsakte.
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                                                 II.


Der zulässige Antrag ist begründet; die Antragsgegnerin ist einstweilig zur Erteilung der begehr-
ten Auskunft verpflichtet.


A.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Gestalt einer Regelungsanordnung
(§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO) ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere bestehen
keine Zweifel in Bezug auf das Vorliegen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses; die An-
tragstellerin hat die Auskunft im beantragten Umfang bereits vorab bei der Bundesagentur erbe-
ten, sodass kein einfacherer Weg zur Erreichung des Antragsziels ersichtlich ist. Eine gleichzei-
tige Klageerhebung in der Hauptsache ist nicht nötig, § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO.


B.
Der Antrag ist auch begründet. Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch (dazu
I.) als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (dazu II.) und es ist ausnahmsweise die
Vorwegnahme der Hauptsache angezeigt (dazu III.).


Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag
eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streiti-
ges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile
abzuwenden. Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 929 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO ist dabei neben
einem in der Eilbedürftigkeit der Regelung begründeten Anordnungsgrund auch ein Anord-
nungsanspruch, d.h. der materielle Grund, für den der Antragsteller vorläufig Rechtsschutz er-
sucht, glaubhaft zu machen. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhält-
nisse im Zeitpunkt der Entscheidung.


Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung, welche die Antragsgegnerin zur Beant-
wortung des Auskunftsbegehrens verpflichtet, stellt keine vorläufige Maßnahme dar; eine etwa-
ige auf Auskunftserteilung gerichtete Hauptsache wäre dadurch erledigt. Vor diesem Hinter-
grund sind vorliegend erhöhte Anforderungen an die Darlegung sowohl des geltend gemachten
Anordnungsgrunds als auch des Anordnungsanspruchs zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2017
– 7 CE 16.2056 – juris Rn. 9), die vorliegend allerdings erfüllt sind.
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I.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch in Gestalt des allgemeinen presserechtli-
chen Auskunftsanspruchs glaubhaft gemacht.


Art. 4 Abs. 1 BayPrG und die anderen Landespressegesetze finden keine Anwendung auf Aus-
kunftsersuchen gegen Bundesbehörden wie die Antragsgegnerin. Daher ist unmittelbar auf die
Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) als Rechtsgrundlage für pressespezifische Auskunfts-
pflichten zurückzugreifen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 6 A 2/12 – juris). Der Anspruch darf
dabei in seinem materiellen Gehalt nicht hinter den Ansprüchen nach den Landespressegeset-
zen zurückbleiben (vgl. BVerwG, U.v. 8.6.2021 – 6 A 10/20 – juris Rn. 18).


Der presserechtliche Auskunftsanspruch kann als Individualrecht einzelner Pressangehöriger
(vgl. BVerwG, U.v. 8.6.2021 – 6 A 10/20 – juris Rn. 19) von der als freie Journalistin tätigen An-
tragstellerin geltend gemacht werden. Es ist vorliegend auch unstreitig, dass sich der geltend
gemachte Auskunftsanspruch auf bei der Bundesagentur tatsächlich vorhandene Informationen
bezieht, d.h. es wird keine nicht vom presserechtlichen Auskunftsanspruch umfasste Informati-
onsbeschaffung verlangt (vgl. dazu vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 6 A 2/12 – juris Rn. 30).


Der Auskunftsanspruch ist ausgeschlossen, wenn ihm im Einzelfall berechtigte, schutzwürdige
Interessen Privater oder öffentlicher Stellen entgegenstehen. Bei der Entscheidung hierüber be-
darf es einer Abwägung des Informationsinteresses der Presse mit den gegenläufigen schutz-
würdigen Interessen im Einzelfall, bei der eine Bewertung des Informationsinteresses grund-
sätzlich nicht in Betracht kommt. Entscheidend ist vielmehr, ob diesem schutzwürdige Interes-
sen von solchem Gewicht entgegenstehen, dass sie den presserechtlichen Auskunftsanspruch
ausschließen (vgl. u.a. BVerwG, B.v. 10.5.2022 – 6 A 9/21, 6 A 9/21 (6 A 9/19) – juris Rn. 10).


Es kommt demnach nicht darauf an, welches Gewicht und welchen „Nachrichtenwert“ nach An-
sicht des Gerichts die angefragte Information besitzt. Es ist vielmehr die Pressefreiheit, deren
grundrechtliche Dimension stets zu beachten ist (vgl. BVerfG, B.v. 14.9.2015 – 1 BvR 857/15 –
juris Rn. 16), an sich mit den konkreten gegenläufigen Interessen im Einzelfall abzuwägen.
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Diese Abwägung fällt zugunsten des Informationsinteresses der Antragstellerin aus. Denn es
sind weder seitens der Unternehmen, gegen die 2022 ein Bußgeldverfahren eingeleitet wurde,
noch seitens der Beschäftigten dieser Unternehmen ausreichend schutzwürdige Interessen be-
troffen, um vorliegend die Pressefreiheit aufzuwiegen.


1.
Das Gericht geht angesichts des grundrechtlichen Gewichts des presserechtlichen Auskunfts-
anspruchs nicht davon aus, dass eine Information, die Sozialdaten i.S.v. § 67 Abs. 2 Satz 1
SGB X oder Betriebs- bzw. Geschäftsgeheimnisse i.S.v. § 67 Abs. 2 Satz 2 SGB X betrifft, be-
reits angesichts der gesetzlichen Regelung des § 35 Abs. 3, 4 SGB I, die insoweit eine Auskunft
absolut ausschließt, keinem presserechtlichen Auskunftsanspruch zugänglich ist (vgl. BVerwG,
U.v. 25.3.2015 – 6 C 12/14 – NVwZ 2015, 1388 Rn. 29, siehe aber BayVGH, B.v. 10.8.2022 – 7
CE 22.1099 – BeckRS 2022, 19871 Rn. 39 ff.). Dennoch kann die gesetzliche Einordnung als
Geschäfts- bzw. Betriebsgeheimnis oder als dem Sozialgeheimnis unterfallende Information je-
denfalls ein besonderes Gewicht eines schutzwürdigen Interesses indizieren.


2.
Die Information, dass gegen ein Unternehmen im Jahr 2022 wegen Nichterfüllung seiner ge-
setzlichen Pflicht zur Einstellung von schwerbehinderten Menschen (§ 154 Abs. 1 Satz 1 SGB
IX) durch die Bundesagentur ein Bußgeldverfahren eingeleitet wurde, sowie, was der Stand des
besagten Verfahrens ist, stellt aber nach Ansicht des Gerichts kein Betriebs- bzw. Geschäftsge-
heimnis der betroffenen Unternehmen dar.


Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind nach der Legaldefinition des § 67 Abs. 2 Satz 2 SGB
X alle betriebs- oder geschäftsbezogenen Daten, auch von juristischen Personen, die Geheim-
nischarakter haben. Der streitgegenständlichen Information über die Einleitung von Bußgeldver-
fahren fehlt nach Überzeugung des Gerichts bereits der nötige Betriebs- bzw. Geschäftsbezug,
sodass es auf den Geheimnischarakter der Information und die in diesem Zusammenhang vor-
gebrachten Argumente der Beteiligten nicht ankommt.


Betriebsgeheimnisse betreffen typischerweise den – hier offensichtlich nicht einschlägigen –
technischen Bereich, Geschäftsgeheimnisse regelmäßig den kaufmännischen Bereich (vgl. Le-
opold in BeckOGK Sozialrecht, Stand: 15.5.2023, SGB X § 67 Rn. 105). Geschäftsgeheimnisse
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sind somit Tatsachen, die den kaufmännischen Bereich eines Unternehmens betreffen, im Zu-
sammenhang mit einem Geschäftsbetrieb stehen und an deren Geheimhaltung ein schutzwür-
diges wirtschaftliches Interesse besteht (vgl. BayVGH, B.v. 10.8.2022 – 7 CE 22.1099 –
BeckRS 2022, 19871 Rn. 45). Zwar wirkt sich ein Bußgeldverfahren auf die Unternehmensfi-
nanzen und damit (mittelbar) auf den kaufmännischen Bereich aus. Entscheidend ist aber, dass
die bloße Tatsache, dass ein Unternehmen 2022 keine schwerbehinderten Menschen einge-
stellt hat, an sich ohne Weiteres keine Rückschlüsse auf kaufmännische bzw. unternehmeri-
sche Entscheidungen zulässt. Die Hintergründe, die dazu führen können, dass ein Unterneh-
men seiner Pflicht nach § 154 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht nachkommt – oder im Einzelfall nicht
nachkommen konnte – sind denkbar vielfältig, und es kann von der bloßen Tatsache eines Buß-
geldverfahrens nicht etwa auf eine zugrundeliegende Kosten-Risiko-Kalkulation eines Unter-
nehmens geschlossen worden. Folglich droht durch die Auskunft auch nicht die Offenbarung
einer Information, die den sensiblen geschützten Kern geschäftsbezogener Informationen be-
trifft.


3.
Ohne dass Geschäfts- bzw. Betriebsgeheimnisse betroffen wären, droht den sechs Unterneh-
men durch eine Berichtserstattung über den Inhalt der Auskunft, dass öffentlich bekannt wird,
dass sie im Jahr 2022 ihrer rechtlichen – in der öffentlichen Wahrnehmung potenziell auch mo-
ralischen – Pflicht nicht nachgekommen sind, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Es
ist denkbar, dass in der Folge das Ansehen der besagten Unternehmen in der Öffentlichkeit lei-
det, und dass sich potenziell (gerade schwerbehinderte) Bewerber und Bewerberinnen abge-
schreckt fühlen.


Unternehmen genießen allerdings grundsätzlich keinen grundrechtlichen Schutz vor der aktiven
Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener Informationen und vor informationsbedingten
Imageschäden und Umsatzeinbußen (vgl. OVG NRW, B.v. 7.5.2020 – 15 B 315/20 – juris Rn. 7
ff.). Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass der streitgegenständlichen Information ein
Verstoß gegen eine Rechtspflicht zugrunde liegt.


Eine „Prangerwirkung“ ist auch dadurch gerade abgeschwächt, dass bekannt ist, dass 45.000
Unternehmen 2022 ihrer gesetzlichen Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen
nicht nachgekommen sind. Wie bereits dargelegt, sind die Hintergründe von Verstößen gegen
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