Strafverfahren gegen FragDenStaat-ChefredakteurBerliner Landgericht verhandelt im Oktober zu verbotenen Veröffentlichungen

Die Veröffentlichung von Dokumenten aus dem laufenden Strafverfahren gegen die „Letzte Generation“ geht vor Gericht. Das Landgericht wird im Oktober im Strafverfahren gegen FragDenStaat-Chefredakteur verhandeln. Wir veröffentlichen unsere Stellungnahme ans Gericht.

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Am 16. und 18. Oktober 2024 ist es soweit: FragDenStaat-Projektleiter und -Chefredakteur Arne Semsrott wird sich vor dem Berliner Landgericht in Moabit wegen der Veröffentlichung der Gerichtsbeschlüsse zur Letzten Generation verantworten müssen. Die Veröffentlichung von oder das Zitieren aus Dokumenten aus laufenden Strafverfahren ist nach § 353 d Nr. 3 StGB strafbar, solange das Verfahren nicht abgeschlossen ist oder öffentlich verhandelt wurde. Dies gilt unabhängig davon, ob durch die Veröffentlichung eine konkrete Beeinträchtigung der Verfahren droht und auch in den Fällen, wenn – wie im Fall der Letzten Generation – ein besonderes öffentliches Interesse an der Kenntnis des Wortlauts von Dokumenten besteht.

Aus unserer Sicht ist die Strafnorm verfassungswidrig und verstößt gegen die Pressefreiheit. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) muss es auch in laufenden Strafverfahren wie zur Letzten Generation erlaubt sein, bei öffentlichem Interesse aus amtlichen Dokumenten zu zitieren. Die gesamte rechtliche Argumentation können Sie in unserer gemeinsam mit dem Strafverteidiger Dr. Lukas Theune und der Gesellschaft für Freiheitsrechte erstellten Stellungnahme an das Berliner Landgericht nachlesen, die wir hiermit veröffentlichen.

Den Beschluss des Landgerichts, mit dem es entschieden hat, das Hauptverfahren zu eröffnen, können wir wiederum leider nicht im Wortlaut veröffentlichen: § 353d Nr. 3 StGB steht dem entgegen. Das Landgericht teilt unsere Auffassung nicht, dass die Norm verfassungswidrig ist. Ob die Rechtsprechung des EGMR einer Verurteilung im Fall von Arne Semsrott entgegensteht, ist damit jedoch nicht gesagt. Darüber wird am 16. und 18. Oktober 2024 verhandelt. In einem Punkt stimmt uns das Landgericht jedenfalls zu: Die Sache hat besondere Bedeutung. Nur deswegen wird direkt am Landgericht verhandelt, ansonsten wäre das Amtsgericht zuständig. Im Falle einer Verurteilung haben wir so die Möglichkeit, direkt weiter vor den Bundesgerichtshof zu ziehen.

In der Zwischenzeit könnte auch der Gesetzgeber ran. Der Gesetzesentwurf für die angekündigte Strafrechtsnovelle wird in den nächsten Monaten erwartet. Laut Koalitionsvertrag soll die Reform unter anderem dazu dienen, historisch überholte Straftatbestände zu streichen und die Modernisierung des Strafrechts voranzutreiben. § 353d Nr. 3 StGB hätte einen Platz in dem Gesetzesentwurf mehr als verdient.

zur Stellungnahme

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Landgericht Berlin I – Dienststelle Turmstraße                                          Dr. Lukas Theune
                                                                                        Rechtsanwalt
Turmstraße 91                                                                           Fachanwalt für Strafrecht
10559 Berlin
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In dem Strafverfahren
Datum                                    Mein Zeichen        Ihr Zeichen                Bürozeiten
19.03.2024                               879/23/lt           (536 KLS) 237 Js 3347/23   Mo - Fr
                                                             (1/24)                     10:00 Uhr - 13:00 Uhr
                                                                                        zusätzlich Di & Do
                                                                                        15:00 Uhr - 18:00 Uhr


./. Semsrott, Arne
                                                                                        akm Rechtsanwält*innen
Geschäftszeichen: (536 KLS) 237 Js 3347/23 (1/24)
                                                                                        Rechtsgebiete
                                                                                        Migrationsrecht
                                                                                        Familienrecht
Bedanken wir uns für die Fristverlängerung. Ich beantrage zu entschei-                  Verwaltungsrecht
                                                                                        Sozialrecht
den:
                                                                                        Strafrecht
             1. Das Verfahren wird ausgesetzt und gemäß Art. 100
                                                                                        Rechtsanwältinnen
                   Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Ent-                      und Rechtsanwälte
                                                                                        Einar Aufurth
                   scheidung vorgelegt.                                                 Miriam Frieding
                                                                                        Carolin Kaufmann
             2. Das Landgericht hält § 353d Nr. 3 StGB für verfas-                      Christine Lüth
                                                                                        Yaşar Ohle
                   sungswidrig.                                                         Lukas Theune
                                                                                        Hanna Übach
             3. Hilfsweise: Die Eröffnung des Hauptverfahrens wird
                                                                                        Bankverbindung
                   abgelehnt.                                                           Empfänger: akm Rechtsanwält*innen
                                                                                        IBAN: DE 02 1203 0000 1052 3578 50
                                                                                        BIC/Swift-Code: BYLADEM1001
                                                                                        Kto: 1052357850
                                                                                        BLZ: 120 300 00
§ 353d Nr. 3 StGB ist verfassungswidrig. Das Verbot ist mit dem Grund-                  Bank: DKB
recht auf Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 1 GG, Art. 10 EMRK
                                                                                        Steuernummer
sowie mit der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG unvereinbar.                   16/557/01506

Der Eingriff in die Pressefreiheit ist nicht gerechtfertigt. § 353d Nr. 3
StGB verstößt gegen das Bestimmtheitsgebot und gegen den Verhältnis-
mäßigkeitsgrundsatz. In Gesamtschau sind Tragweite und Anwendungs-
bereich von § 353d Nr. 3 StGB nicht hinreichend erkennbar und damit in
verfassungswidriger Weise zu unbestimmt. Die Unbestimmtheit führt zu einer übermäßigen
1

Freiheitsverkürzung. Journalist*innen wissen schlicht nicht, „was erlaubt ist und was nicht” und behel-
fen sich mit auf die potentielle Strafbarkeit hinweisenden Disclaimern, welche die Bedeutung der Pres-
sefreiheit für die demokratisch verfasste Gesellschaft konterkarieren. Gerade in Zeiten zunehmender
Skepsis gegenüber etablierten Medien und weit verbreiteten Desinformationskampagnen verbietet ein
im Kern seit 150 Jahren gleich gebliebener ehemaliger Sondertatbestands, auch nur einzelne Stellen aus
amtlichen Dokumenten aus laufenden Strafverfahren wortgleich zu zitieren.
§ 353d Nr. 3 StGB ist dabei schon nicht geeignet, die verfolgten Zwecke zu erreichen, mithin das Rechts-
gut der Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten sowie die Rechtsgüter des Betroffenen wirksam zu
schützen. Bei der sinngemäßen Wiedergabe von amtlichen Dokumenten besteht stets die Gefahr, dass
amtliche Dokumente falsch, ungenau oder sinnentstellend wiedergegeben werden, insbesondere, wenn
es um die juristische Fachsprache und deren eindeutige Begrifflichkeiten geht. Der nach Ansicht des
Bundesverfassungsgerichts strafbegründende Anschein „amtlicher Authentizität“ hält einer erneuten
Betrachtung knapp 40 Jahre nach der ursprünglichen Entscheidung nicht stand. Die tatsächlichen Um-
stände des Konsums von Nachrichten und Zugangs zu Informationen durch die Massenmedien und das
Internet haben sich seitdem fundamental geändert. Den Verfahrensbeteiligten ist es durch diese Verän-
derungen unmöglich, nicht durch Informationen über den Prozess beeinflusst zu werden. Auf Grundlage
dieser veränderten Tatsachen und unter Berücksichtigung zunehmender Desinformationskampagnen
und „Fake News“, also der im Internet in manipulativer Absicht verbreiteten Falschmeldungen, ist die
Authentizität amtlicher Dokumente nicht mehr die entscheidende Gefahr für das Rechtsgut, sondern
trägt im Gegenteil gerade dazu bei, das Rechtsgut zu schützen. Für die Persönlichkeitsrechte der Be-
troffenen gilt noch stärker, dass die Norm einen wirksamen Schutz eher verhindert als fördert. Den Be-
troffenen selbst ist die Veröffentlichung aufgrund der Alternativität der beiden Schutzgüter verboten,
auch wenn sie damit gerade den – grundrechtlich geschützten – Kampf ums Recht führen. Das nimmt
ihnen die Möglichkeit, einer falschen Darstellung in den Medien oder im Internet gerade mit den amtli-
chen Dokumenten entgegenzutreten, obwohl die Veröffentlichung der Gerichtsbeschlüsse einen au-
thentischen Gegenbeweis darstellen kann.
§ 353d Nr. 3 StGB ist auch nicht erforderlich, um die Rechtsgüter zu schützen. Es existieren mildere, die
Adressat*innen weniger belastende und gleich effektive Mittel als Alternative zum strafrechtlichen Ver-
bot, das im Rahmen eines demokratisch verfassten Rechtsstaats stets nur „ultima ratio“ des Rechtsgü-
terschutzes sein kann. Für das Schutzgut der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen besteht mit dem
allgemeinen zivilrechtlichen Schutz vor Persönlichkeitsrechtsverletzungen, der auf einer jahrzehntelang
ausdifferenzierten Rechtsprechung beruht, die ihrerseits maßgeblich von der Abwägung der betroffe-
nen Grundrechtspositionen geprägt ist, ein im Alltag bereits etabliertes, mindestens gleich geeignetes,
die Pressefreiheit aber jedenfalls weniger einschränkendes Mittel. Im Hinblick auf das Schutzgut der
Unvoreingenommenheit der Verfahrensbeteiligten würde zudem als milderes Mittel die qualifizierte
Einordnung und Belehrung durch die Richter*innen greifen.
Insbesondere unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte greift § 353d Nr. 3 StGB jedenfalls unverhältnismäßig in die Pressefreiheit ein. Das Verbot,



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amtliche Schriftstücke wörtlich zu zitieren, greift in den Kernbereich der Pressefreiheit ein. Die Presse
hat die Freiheit, abzuwägen in welcher Form und mit welchen Mitteln sie über Ereignisse von öffentli-
chem Interesse berichtet. Der Pressefreiheit kommt gerade bei der Veröffentlichung von Informationen
aus einem Strafverfahren besondere Bedeutung zu. Zwar können Mitgliedstaaten nach der Rechtspre-
chung des Gerichtshofs grundsätzlich Strafvorschriften vorsehen, welche die Mitteilung aus Strafverfah-
ren verbietet. Jedoch verlangt der Gerichtshof gerade auch mit Blick auf die überragende Bedeutung der
Pressefreiheit mehr als nur eine abstrakte Gefährdung der von der Norm verfolgten Zwecke. Die Behör-
den müssen darlegen, dass diese Rechte tatsächlich beeinträchtigt sind, um eine Abwägung mit der
Rechtsposition der Presseorgane und dem öffentlichen Interesse daran zu ermöglichen, über den Ablauf
von Strafprozessen adäquat informiert zu sein. Der Gerichtshof betont, dass die Veröffentlichung von
amtlichen Dokumenten im Original gerade die Glaubwürdigkeit der mitgeteilten Informationen fördert
und deren Richtigkeit und Authentizität belegt. Demnach liegt es gerade bei der Veröffentlichung von
Informationen aus Gerichts- und Ermittlungsverfahren im Wortlaut fern, dass die Beteiligten des Ge-
richtsverfahrens beeinflusst werden.
Der Fall von Herrn Semsrott zeigt wie unter einem Brennglas die Bedeutung des wörtlichen Zitats insbe-
sondere aus gerichtlichen Beschlüssen im Ermittlungsverfahren. Wie von Herrn Semsrott im Rahmen
der Veröffentlichung der Beschlüsse in dem begleitenden Artikel angeführt, findet die Diskussion um die
Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahmen, aber auch die daran anschließende Diskussion um die Ver-
fassungsgemäßheit des Straftatbestandes der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB
„jetzt“ statt, nicht erst mit Abschluss des Strafverfahrens, zumal zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht
einmal Anklage erhoben ist. Eine fundierte öffentliche Diskussion muss die einschlägigen gerichtlichen
Entscheidungen kennen, auf die sich die Ermittlungsmaßnahmen stützen. Nur die Kenntnis des Wort-
lauts dieser Entscheidungen lässt die fundierte Auseinandersetzung mit diesen zu. Die etwa von der
Berliner Senatsverwaltung vorgenommene Bewertung des Beschlusses des Amtsgerichts München als
„voreingenommen formuliert“ lässt sich ohne Kenntnis der genauen Formulierungen der Entscheidung
schlicht nicht nachvollziehen.
Der Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit durch § 353d Nr. 3 StGB ist ebenfalls nicht gerechtfertigt. Gerade
für die Rechtswissenschaft ist eine freie Diskussion auch über aktuelle juristische Themen maßgeblich,
zumal sich Strafverfahren oft – wie das Beispiel der Ermittlungen gegen die Mitglieder der Letzten Ge-
neration zeigt – über viele Jahre hinziehen. Eine auf Grundlage der konkreten richterlichen Entscheidun-
gen geführte rechtswissenschaftliche Diskussion über den Inhalt von amtlichen Dokumenten wird damit
über Jahre unterbunden. Darin liegt die besondere Schwere des Eingriffs: Noch mehr als für die allge-
meine öffentliche Diskussion ist es für die Rechtswissenschaft von unbestrittener Bedeutung, die ge-
nauen Begrifflichkeiten zu verwenden. Eine bloße Umschreibung des Inhalts verletzt das Gebot wissen-
schaftlicher Präzision.




                                                     3
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1.    PROZESSGESCHICHTE UND SACHVERHALT .......................................................................... 7

A.    PROZESSGESCHICHTE ....................................................................................................................... 7
B.    SACHVERHALT ................................................................................................................................ 7
(1)    ANGABEN ZUM ANGESCHULDIGTEN ......................................................................................................... 7
(2)    VERFAHRENSGEGENSTÄNDLICHE VERÖFFENTLICHUNGEN ............................................................................. 8
(3)    ÖFFENTLICHE DISKUSSION ZUR LETZTEN GENERATION ............................................................................... 10
(4)    ÖFFENTLICHE REAKTIONEN AUF DAS ERMITTLUNGSVERFAHREN GEGEN HERRN SEMSROTT............................... 15

2.    ZUSTÄNDIGKEIT DES LANDGERICHTS ................................................................................ 18

A.    MAßSTAB ................................................................................................................................... 18
B.    BESONDERE BEDEUTUNG DES FALLS .................................................................................................. 18

3. VERFASSUNGSWIDRIGKEIT DER NORM: NOTWENDIGKEIT DER VORLAGE AN DAS
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT ................................................................................................. 20

A.    ZULÄSSIGKEIT ............................................................................................................................ 20
(1)    ZULÄSSIGE ENTSCHEIDUNGSART ............................................................................................................ 20
(2)    ANFORDERUNG AN DIE BEGRÜNDUNG DER VORLAGE ................................................................................ 21
(a)    Allgemeine Anforderungen an die Begründung der Vorlage ......................................................... 21
(b)    Weitere Anforderungen bei erneuter Vorlage ............................................................................... 22
(3)    RICHTERLICHE ÜBERZEUGUNG VON DER VERFASSUNGSWIDRIGKEIT.............................................................. 23
(a)    Kursorisch: Verfassungswidrigkeit des § 353d Nr. 3 StGB .............................................................. 24
(b)    Rechtserhebliche Änderungen der Sach- und Rechtslage............................................................ 24
(1)    Maßgebliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ..................................................... 24
(a)    BVerfG, Urteil vom 3. Dezember 1985 – 1 BvL 15/84 (BVerfGE 71, 206 ff.)................................... 24
(b)    BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2014, 2 BvR 429/12 ..................................................................... 25
(c)    BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2015, 2 BvR 433/15 ..................................................................... 27
(2)    Rechtserhebliche Veränderungen .................................................................................................. 27
(a)    EGMR-Rechtsprechung .................................................................................................................. 28
(b)    Sonstige Änderungen der Sach- und Rechtslage ............................................................................ 30
(c)    Fehlende Möglichkeit verfassungskonformer Auslegung............................................................... 30
(1)    Maßstab.......................................................................................................................................... 30
(2)    Entstehungsgeschichte und Wortlaut von § 353d Nr. 3 StGB ........................................................ 32
(3)    Hypothetische Ansätze verfassungskonformer Auslegung ............................................................ 35
(a)    Teleologische Reduktion ................................................................................................................ 35
(b)    Ausnahmelösung ............................................................................................................................ 37
(c)    Einwilligungslösung ........................................................................................................................ 38


                                                                            4
4

(d)      Rechtfertigungslösung.................................................................................................................... 39
(4)      Zwischenergebnis: Keine verfassungskonforme Auslegung ........................................................... 40
(4)      ENTSCHEIDUNGSERHEBLICHKEIT............................................................................................................. 41
(a)      Strafbarkeit bei Gültigkeit des § 353d Nr. 3 StGB........................................................................... 42
(b)      Keine Strafbarkeit bei Ungültigkeit des § 353d Nr. 3 StGB............................................................. 42
B.      BEGRÜNDETHEIT ........................................................................................................................... 44
(1)      VERLETZUNG DES ART. 5 ABS. 1 S. 2 VAR. 1 GG...................................................................................... 44
(a)      Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 1 GG ........................................................ 44
(b)      Fehlende Rechtfertigung des Eingriffs............................................................................................ 45
(1)      Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot ........................................................................................ 45
(a)      Maßstab ......................................................................................................................................... 45
(b)      Verfassungswidrige Unbestimmtheit ............................................................................................. 46
(i)     „amtliche Dokumente“ .................................................................................................................... 46
(ii)     „in wesentlichen Teilen“ ................................................................................................................. 47
(iii)     „im Wortlaut“ ................................................................................................................................ 48
(iv)      „bevor das Verfahren abgeschlossen ist“ ...................................................................................... 48
(v)      Gesamtwürdigung und Zwischenergebnis ...................................................................................... 50
(2)      Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ....................................................................... 50
(a)      Legitimer Zweck ............................................................................................................................. 51
(b)      Geeignetheit ................................................................................................................................... 51
(i)     Maßstab ........................................................................................................................................... 52
(ii)     § 353d Nr. 3 StGB schlechthin ungeeignet ..................................................................................... 52
(a)      Nicht geeignet die Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten zu schützen ................................. 53
(b)      Nicht geeignet die Rechte von Betroffenen zu schützen ............................................................... 56
(c)      Erforderlichkeit ............................................................................................................................... 57
(i)     Maßstab ........................................................................................................................................... 57
(ii)     Zivilrechtlicher Schutz mit Vorrang vor strafrechtlichem ultima ratio-Schutz ................................ 58
(d)      Angemessenheit ............................................................................................................................. 60
(i)     Abstrakte Wertigkeit der geschützten Rechtsgüter ........................................................................ 60
(ii)     Abstrakte Wertigkeit der Pressefreiheit ......................................................................................... 61
(iii)     Schwere des Eingriffs in die Pressefreiheit .................................................................................... 62
(iv)      Grad der Zweckerreichung............................................................................................................. 67
(v)      Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 10 EMRK ............... 69
(a)      Zwingende völkerrechtsfreundliche Auslegung von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ..................................... 69
(b)      Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK ............................................................................. 70
(c)      Fehlende Rechtfertigung des Eingriffs ............................................................................................ 71
(i)     Gesetzlich vorgeschrieben ............................................................................................................... 71
(ii)     Legitimes Ziel .................................................................................................................................. 72
(iii)     Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft ......................................................................... 73
(vi)      Gesamtabwägung .......................................................................................................................... 76


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(2)   VERLETZUNG DES ART. 5 ABS. 3 S. 1 GG ................................................................................................ 78
(a)   Eingriff in den Schutzbereich .......................................................................................................... 78
(b)   Fehlende Rechtfertigung des Eingriffs............................................................................................ 79
(3)   VERLETZUNG VON ART. 5 ABS. 1 S. 1 VAR. 1 GG .................................................................................... 80

4. HILFSWEISE: KEINE STRAFBARKEIT UNTER BERÜCKSICHTIGUNG DER RECHTSPRECHUNG DES
EUROPÄISCHEN GERICHTSHOFS FÜR MENSCHENRECHTE ................................................................. 82




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1.      Prozessgeschichte und Sachverhalt
a.      Prozessgeschichte
Mit Schreiben vom 10. Oktober 2023 hat die Staatsanwaltschaft Berlin dem Angeschuldigten, Herrn Arne
Semsrott, bekannt gegeben, ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen des Verdachts der verbotenen
Mitteilung über Gerichtsverhandlungen gemäß § 353d Nr. 3 StGB zu führen (Bl. 83 ff., Bd. II d.A., 237 Js
3347/23). Herr Semsrott hat mit Schriftsatz vom 4.Dezember 2023 zu den Vorwürfen Stellung genom-
men, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe in tatsächlicher Hinsicht eingeräumt sowie beantragt, Anklage
zur Staatsschutzkammer bei dem Landgericht Berlin zu erheben und wegen der Verfassungswidrigkeit
von § 353d Nr. 3 StGB mit der Anklage gemeinsam mit der Verteidigung zu beantragen, das Verfahren
gemäß Art. 100 GG auszusetzen und § 353d Nr. 3 StGB dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen (Bl. 98
ff., Bd. II d.A.). In einem Vermerk hat die Staatsanwaltschaft den hinreichenden Tatverdacht gegen Herrn
Semsrott bejaht (Bl. 116 ff., Bd. II d.A.) und Anklage vor dem Landgericht Berlin I, Strafkammer, erhoben
(Bl. 130 ff., Bd. II d.A.).
b.      Sachverhalt
(1)      Angaben zum Angeschuldigten
Der Angeschuldigte, Herr Semsrott, ist Journalist und Projektleiter bei der Open Knowledge Foundation
Deutschland e.V. Hier leitet er als Chefredakteur die Transparenz- und Rechercheplattform FragDen-
Staat.
FragDenStaat versteht sich als die zentrale Anlaufstelle für Informationsfreiheit in Deutschland. Herr
Semsrott und die weiteren Mitarbeitenden bringen mithilfe der Informationsfreiheitsgesetze (IFG) zuvor
unveröffentlichte Informationen an die Öffentlichkeit.
Das Projekt hat ein Rechercheteam, das neben Herrn Semsrott aus drei festangestellten Journalist*in-
nen besteht. Das Team arbeitet investigativ und verfügt insbesondere über Expertise im Bereich so ge-
nannter Open Source Intelligence (OSINT) sowie im Datenjournalismus. Sie veröffentlichen regelmäßig
eigene journalistische Beiträge auf der Webseite von FragDenStaat (abrufbar unter https://fragden-
staat.de/blog/). Dabei kooperiert die Redaktion zum Teil für Auswertung, Recherche und Veröffentli-
chungen mit anderen Medien, wie dem Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF), der Süddeutschen Zeitung
oder dem Stern.

          Vgl. bspw. Semsrott, Kempen, Winter, „Wir veröffentlichen den rechtsextremen Frankfur-
                   ter Polizei-Chat“, 29. September 2023, abrufbar unter https://fragden-
          staat.de/blog/2023/09/29/wir-veroffentlichen-den-rechtsextremen-frankfurter-polizei-
           chat/; Kempen, „Tödliche Polizeieinsätze“, 3. Mai 2023, abrufbar unter https://fragden-
                                 staat.de/blog/2023/05/03/polizei-krisen/

In unregelmäßigen Abständen erscheint eine Printversion der Recherchen, zuletzt im Dezember 2023 in
einer Auflage von 2.000 Stück.


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Herr Semsrott und andere Journalist*innen von FragDenStaat wurden für ihre Arbeit in Kooperation mit
dem gemeinwohlorientierten Medienhaus Correctiv mit dem Grimme Online Award 2023 ausgezeich-
net. In der Begründung der Jury heißt es:

          „Beeindruckend ist besonders der journalistische Tiefgang, der in Kooperation mit “Frag-
          DenStaat” und zahlreichen lokalen Medienhäusern die Daten von 1.500 Betroffenen auf-
                         bereitet und mit rund 20 intensiven Interviews anreichert.“
            Jury des Grimme Online Awards 2023, abrufbar unter https://www.grimme-online-a-
                                      ward.de/2023/preistraeger/alle

Zum journalistischen Selbstverständnis von FragDenStaat gehört es, die hinter den Recherchen stehen-
den Quellen öffentlich zu machen. Hierdurch kann die Öffentlichkeit nachvollziehen, auf welcher Basis
die Recherche erfolgt, sich eingehender mit dem Thema auseinandersetzen und die in der Berichterstat-
tung gezogenen Schlüsse kritisch hinterfragen. Damit gewährleistet FragDenStaat neben der Transpa-
renz amtlicher Informationen Transparenz hinsichtlich der eigenen Arbeit. So heißt es auf der Internet-
seite von FragDenStaat:

                                               #Recherchen

                              Wir decken geheim gehaltene Informationen auf

           In unserem Blog schreiben wir über politische und gesellschaftliche Missstände. Unsere
          Quellen machen wir dabei immer öffentlich – lesen Sie selbst nach, auf welcher Basis un-
                                 sere investigativen Recherchen entstehen.

           Oft stecken brisante Informationen in amtlichen Unterlagen. Lageberichte, Gesetzesent-
          würfe, Lobbygespräche – selten werden diese öffentlich gemacht. Wir fragen Dokumente
                      mit dem Informationsfreiheitsgesetz an und berichten darüber.

              Auszug aus der Internetseite von FragDenStaat, abrufbar unter https://fragden-
                                      staat.de/ueber-uns/#recherchen

(2)      Verfahrensgegenständliche Veröffentlichungen
Am 22. August 2023 veröffentlichte Herr Semsrott auf einen Artikel mit dem Titel „Hier sind die Gerichts-
beschlüsse zur Letzten Generation“.

          Semsrott, Arne, „Hier sind die Gerichtsbeschlüsse zur Letzten Generation“, abrufbar unter
          https://fragdenstaat.org/blog/2023/08/22/hier-sind-die-gerichtsbeschlusse-zur-letzten-
                                                generation/




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In diesen Artikel bettete Herr Semsrott die drei Beschlüsse des Amtsgerichts München ein (Beschluss
des Amtsgerichts München vom 13. Oktober 2022, ER V Gs 11706/22, Beschluss des Amtsgerichts Mün-
chen vom 16. Mai 2023, ER V Gs 5965/23; Beschluss des Amtsgerichts München vom 23. Mai 2023, ER
V 6287/23) und veröffentlichte sie damit. Er war sich dessen bewusst, dass die Ermittlungsverfahren
noch nicht abgeschlossen waren. Die Angaben in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Berlin vom
25. Januar 2024 sind insoweit zutreffend.
Sofern potentiell persönlichkeitsrechtsrelevante Inhalte in den Beschlüssen enthalten sind, schwärzte
Herr Semsrott diese entsprechend vor der Veröffentlichung. Keine*r der Beschuldigten hat nach Akten-
lage Einwände gegen die Veröffentlichung erhoben. Die Betroffenen haben selbst im Nachgang an die
Ermittlungsmaßnahmen die Öffentlichkeit gesucht und zum Teil unter Offenlegung ihrer Identität dazu
kommuniziert. So informierte etwa die digitale Plattform elinor über die Durchsuchungen ihrer Ge-
schäftsräume und Beschlagnahme der Guthaben in Höhe von EUR 700.000.

           elinor, Landgericht München I gibt Guthaben von elinor in Höhe von mehr als 700.000
           EUR wieder frei, Pressemitteilung vom 21. Dezember 2023, abrufbar unter https://eli-
                            nor.network/de/posts/elinor-landgericht-muenchen

In dem Artikel setzt sich Herr Semsrott im Kontext der (rechts-)politischen Debatte um die Bewertung
der Aktionsformen der Gruppe „Letzte Generation“ insbesondere mit der Argumentation des Amtsge-
richts München zur Einstufung der Gruppe als kriminelle Vereinigung auseinander. Herr Semsrott kriti-
siert eine seiner Meinung nach fehlende Auseinandersetzung mit den Grundrechten der betroffenen
Personen, insbesondere mit den von der Überwachung der Telekommunikation mittelbar betroffenen
Journalist*innen:

         Dass es sich bei der abzuhörenden Telefonnummer, einer Festnetznummer, um das Presse-
           telefon der Initiative handelt, kommt im Beschluss nicht vor. Dementsprechend gibt es
           auch keine Abwägung der Abhörmaßnahme mit dem schwerwiegenden Eingriff in die
           Pressefreiheit der Journalist*innen, deren Gespräche mit Aktivist*innen über ein halbes
                                           Jahr abgehört wurden.

Weiter setzt er sich kritisch mit einzelnen Textpassagen der Beschlüsse auseinander, in denen das Amts-
gericht die Selbstjustiz, die andere Personen gegenüber Mitgliedern der Letzten Generation ausüben,
heranzieht, um den Tatvorwurf der kriminellen Vereinigung zu begründen:

          Das Amtsgericht München wirft der „Letzten Generation“ im Durchsuchungsbeschluss so-
          gar vor, dass sie selbst zum Opfer von Selbstjustiz werden, wenn „geschädigte Autofahrer
           Aktivisten der Letzten Generation körperlich oder sogar mit dem PKW angreifen“. Dies
           nähmen „die Mitglieder der Letzten Generation zumindest billigend in Kauf“, heißt es in




                                                     9
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den Beschlüssen. Die Straftaten gegen die „Letzte Generation“ werden den Opfern zuge-
                                                  rechnet.

Der Artikel schließt mit einem Appell an die Öffentlichkeit, die Ermittlungsmaßnahmen mittels der von
Herrn Semsrott im gleichen Zuge veröffentlichten Beschlüsse „jetzt“ zu diskutieren, und nicht erst nach
einem weit in der Zukunft liegenden Abschluss der Strafverfahren, da sie bereits jetzt freiheitsbeschrän-
kende Wirkung entfalten:

           Ob deren Maßnahmen verhältnismäßig waren oder eher ein politisches Manöver, kann
          nicht nur nach jahrelangen Verfahren von Gerichten entschieden werden, zumal die Ver-
          fahren nach § 129 StGB häufig besonders lange dauern. Es muss jetzt öffentlich diskutiert
          werden. Denn jetzt entfalten die Maßnahmen ihre durchgreifende Wirkung in Teilen der
           Bevölkerung. Deswegen sind die Beschlüsse der bayerischen Justiz jetzt hier transparent
                                                 einsehbar.

(3)      Öffentliche Diskussion zur Letzten Generation
Hintergrund der Veröffentlichungen von Herrn Semsrott sind die unter anderem bei der Generalstaats-
anwaltschaft München geführten Strafverfahren gegen Mitglieder der Letzten Generation. Ende Mai
2023 hatte die Generalstaatsanwaltschaft München im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen Bil-
dung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB unter anderem Wohnungen von Mitgliedern der
Letzten Generation sowie Geschäftsräume zweier Internet-Plattformen durchsucht, über welche die
Letzte Generation Spenden gesammelt hatte. Die Webseite der Letzten Generation wurde beschlag-
nahmt. Dabei war unter anderem für eine gewisse Zeit ein Warnhinweis der Generalstaatsanwaltschaft
München sowie des Bayerischen Landeskriminalamt auf der Internetseite sichtbar, wonach die Letzte
Generation eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB darstelle und Spenden an die Letzte Genera-
tion ein strafbares Unterstützen der kriminellen Vereinigung darstellte. Wörtlich hieß es:

           „Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar! (Ach-
          tung: Spenden an die Letzte Generation stellen mithin ein strafbares Unterstützen der kri-
                                        minellen Vereinigung dar!)“.

          zitiert aus Redaktionsnetzwerk Deutschland, „Behörden räumen Fehler bei Razzien gegen
          Letzte Generation ein“, 24.05.2023, abrufbar: https://www.rnd.de/politik/razzien-gegen-
                              letzte-generation-behoerden-raeumen-fehler-ein-
                                 2DDHG7EQ7VCBHLIJX2KQWWUJZU.html.

Der Warnhinweis rief nicht nur wegen der vorverurteilenden Tendenzen Kritik hervor.




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