Zu den Voraussetzungen der Einstufung von Informationen als VerschlusssachenGeheime „NSU-Akten“?

Die Veröffentlichung der „NSU-Akten“ hat unter anderem wegen deren Einstufung als GEHEIM großen Wirbel ausgelöst. Aber lagen die Voraussetzungen für diese Einstufung überhaupt vor? Eine rechtliche Einordnung.

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Ein Mann, der ein Schild hochhält, auf dem steht: Wie viel Staat steckt im NSU?
Demo aus Anlass des NSU-Urteils am 11. Juli 2018 –

Am 21. Oktober veröffentlichte FragDenStaat gemeinsam mit dem ZDF Magazin Royale die sogenannten „NSU-Akten“. Sie sind das Ergebnis einer im Jahr 2012 vom damaligen hessischen Innenminister Rhein in Auftrag gegebenen Untersuchung, in der die Rolle des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) im Zusammenhang mit den Morden des NSU durch eine systematische Aufarbeitung der Aktenbestände beleuchtet werden sollte. Der Bericht fördert nichts substantiell Neues über die Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter zutage, zeigt jedoch diverse eklatante Defizite in der Arbeit des hessischen Verfassungsschutzes, insbesondere in den 90er Jahren.

Die Veröffentlichung löste ein breites Echo aus. Während sich einige intensiv mit dem Inhalt der Akten und dem beschämenden Bild auseinandersetzten, das der Hessische Verfassungsschutz darin abgibt, konzentrierte sich die Debatte im Übrigen auf die Frage, wie weit die Pressefreiheit denn reiche und ob sich die beteiligten Journalist:innen möglicherweise strafbar gemacht haben. Grund dafür ist, dass das LfV den Bericht als Verschlusssache GEHEIM eingestuft und zunächst eine Geheimhaltungsfrist von 120 Jahren festgelegt hatte, die später aufgrund eines Erlasses des Hessischen Innenministeriums auf 30 Jahre herabgesetzt wurde. Obwohl eine Vielzahl von Stimmen, die mit dem Inhalt des Berichts vertraut waren, Transparenz statt Geheimhaltung als Gebot der Stunde forderten, wurde die Einstufung des Berichts als "geheim" aufrechterhalten. Die Forderung nach Transparenz liegt darin begründet, dass der Bericht in erster Linie zeigt, wie der Hessische Verfassungsschutz der ihm zugewiesenen Rolle als „Frühwarnsystem der Demokratie“ nicht gerecht geworden ist.

Falsche Einstufung?

Betrachtet man die rechtlichen Voraussetzungen für die Einstufung von Informationen als Verschlusssachen genauer, entstehen Zweifel an deren Vorliegen in Bezug auf die „NSU-Akten“. Die Einstufung von Informationen als Verschlusssachen richtet sich vorliegend nach dem Hessischen Sicherheitsüberprüfungs- und Verschlusssachengesetz (HSÜVG) und der dazu ergangenen Verschlusssachen-Anweisung (VSA). Verschlusssachen sind im öffentlichen Interesse, insbesondere zum Schutz des Wohles des Bundes oder eines Landes, geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse unabhängig von ihrer Darstellungsform (§§ 2 Abs. 1 HSÜVG, 4 Abs. 1 Satz 1 SÜG Bund).

Von einer Einstufung als Verschlusssache ist nur Gebrauch zu machen, soweit dies notwendig ist (§ 8 Abs. 1 Satz 2 VSA Hessen). GEHEIM stellt den zweithöchsten von insgesamt vier Geheimhaltungsgraden dar (§§ 2 Abs. 2 Nr. 2 HSÜVG, 4 Abs. 2 Nr. 2 SÜG Bund). Informationen sollen dann als GEHEIM eingestuft werden, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährdet oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann (§§ 2 Abs. 2 Nr. 2 HSÜVG, 4 Abs. 2 Nr. 2 SÜG). Die VS-Anweisungen nennen als Beispiele für den Geheimhaltungsgrad GEHEIM etwa Informationen zur „Elektronischen Kampfführung“ der Bundeswehr oder Staats- und andere bedeutende Verträge der Bundesrepublik Deutschland.

Mit diesen Beispielen ist der Inhalt der „NSU-Akten“ kaum vergleichbar. Zwar mag es im nachrichtendienstlichen Bereich aufgrund des vermuteten hochsensiblen Informationsgehalts und dem wichtigen Anliegen, Quellen zu schützen, zunächst naheliegend erscheinen, Informationen als Verschlusssache einzustufen. Dies ist aber kein Freifahrtschein für Verfassungsschutzämter, Informationen einzustufen, ohne dass dies inhaltlich gerechtfertigt wäre.

Tatsächlich spricht in Bezug auf einen Teil der in dem Bericht enthaltenen Informationen vieles dafür, dass es bereits an der Grundvoraussetzung einer jeden Einstufung fehlt, nämlich einem öffentlichen Interesse an der Geheimhaltung. Denn: Rechtswidriges oder ethisch fragwürdiges Verhalten von inländischen Geheimnisträgern geheimzuhalten, liegt nicht im öffentlichen Interesse.

Geheimdienst im schlechten Licht

Es handelt sich bei dem Bericht nicht um eine für ein Landesamt für Verfassungsschutz typische Akte, sondern um eine „selbstreflexive Analyse der eigenen Arbeit“, welche derart eklatante Defizite im Handeln des Hessischen Verfassungsschutzes offenbart, dass sich von einer „evidenten Schutzverfehlung“ sprechen lässt. Es geht unter anderem um Akten, die nicht mehr auffindbar sind und Hinweise auf Waffenbesitz von Neonazis, die die Verfassungsschützer:innen nicht weiter verfolgt haben. In Bezug auf derartige Verfehlungen ein öffentliches Interesse an der Geheimhaltung anzunehmen, würde die VS-Einstufung zu einem Instrument der Vertuschung staatlichen Fehlverhaltens machen.

Das LfV begründete die Einstufung freilich nicht damit, dass die Informationen den Verfassungsschutz in einem schlechten Licht dastehen lassen würden, sondern mit einem umfassenden Quellenschutz, der auch den Enkel:innen von V-Leuten noch zugute kommen solle. Dem Quellenschutz kann jedoch auch mit Schwärzungen Rechnung getragen werden. Bereits aus dem Wortlaut von §§ 2 Abs. 1 HSÜVG, 4 Abs. 1 Satz 1 SÜG „geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse“ ergibt sich, dass nicht pauschal ganze Dokumente, sondern immer nur die jeweils geheimhaltungsbedürftigen Informationen eingestuft werden sollen. Vor diesem Hintergrund trägt die Begründung des LfV nicht.

Eine solche Einstufung als Verschlusssache, für die bei näherer Betrachtung die Voraussetzungen nicht vorliegen, ist kein Einzelfall. Eine gerichtliche Überprüfung der Einstufungen findet allerdings nur in Ausnahmefällen statt - in der Regel im Zusammenhang mit informationsfreiheitsrechtlichen Anträgen.  Die Vorgabe im Koalitionsvertrag der Ampel, „eine unabhängige Kontrollinstanz für Streitfragen bei VS-Einstufungen“ zu schaffen, ist daher grundsätzlich zu begrüßen. Dass eine solch unabhängige Kontrollinstanz die Einstufung des gesamten Berichts als GEHEIM im vorliegenden Fall gebilligt hätte, erscheint kaum vorstellbar. Bisher lässt die Umsetzung der Vorgabe aus dem Koalitionsvertrag allerdings noch auf sich warten.

Der Beitrag ist zunächst im RAV-Infobrief erschienen.

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