André EmingerWarum der wichtigste NSU-Helfer nicht im Gefängnis ist

Er gilt als engster Unterstützer der rechtsextremen Terrorgruppe. Doch nach nur anderthalb Jahren Haft wurde André Eminger auf Bewährung entlassen – unter Auflagen. Wir veröffentlichen den Gerichtsbeschluss.

Plakat mit Aufschrift: "Der NSU war nicht zu dritt."
eigene Bearbeitung; Plakat im Vordergrund von Rasande Tyskar Hintergrund von kubia –

Sein Verteidiger bezeichnete ihn vor Gericht als „Nationalsozialist mit Haut und Haaren“, viele andere nennen ihn das vierte Mitglied der Terrorgruppe NSU. Verurteilt wurde André Eminger im Münchener NSU-Prozess jedoch nur zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen Unterstützung der Terrorgruppe – die Bundesanwaltschaft hatte zwölf Jahre Gefängnis für ihn gefordert.

Seit Juli 2022 ist NSU-Unterstützer Eminger auf freiem Fuß. Nach zwei Dritteln seiner Strafe wurde der Rest zur Bewährung ausgesetzt – vor allem, weil Eminger sich laut Gericht glaubhaft von der rechten Szene losgesagt habe. Wir veröffentlichen den Beschluss des Gerichts.

Bewährung unter Auflagen

Den Münchner NSU-Prozess konnte Eminger als Angeklagter größtenteils in Freiheit verfolgen. Erst als die Bundesanwaltschaft im September 2017 in ihrem Plädoyer zwölf Jahre Haft für ihn forderte, musste er wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft. Das Gericht verließ Eminger nach dem Urteil am 11. Juli 2018 als freier Mann. Die Neonaziszene feierte das milde Urteil gegen Eminger als Sieg. Seine Reststrafe nach Abzug der Zeit in Untersuchungshaft trat er im April 2022 an – und verließ das Gefängnis rund drei Monate später bereits wieder.

Am 13. Juli 2022 beschloss der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) München, dass die Reststrafe Emingers zur Bewährung ausgesetzt wird – unter gewissen Auflagen. Vieles davon ist juristischer Standard. Eminger soll sein früheres Arbeitsverhältnis „unverzüglich“ fortführen, er soll unter der dem Gericht bekannten Anschrift seinen Wohnsitz wieder aufnehmen und er muss jeden Wohnortwechsel bei den Behörden melden.

Hinzu kommen spezielle Vorgaben für den verurteilten Rechtsextremen. Demnach soll Eminger mit dem „Aussteigerprogramm Sachsen“ Kontakt aufnehmen und dieses „nach näherer Bestimmung der Leitung“ durchlaufen.

Außerdem soll er fortan weder persönlichen noch telefonischen oder schriftlichen Kontakt mit einer Reihe früherer Weggefährten aus der rechtsextremen Szene haben. Sieben Personen listet das Gericht in dem Beschluss auf. Darunter seine beiden Mitangeklagten Zschäpe und Wohlleben, aber auch mehrere langjährige Rechtsextreme, die Eminger während des NSU-Prozesses begleitet und unterstützt haben.

Nicht in der Liste aufgeführt ist die Person, mit der André Eminger den Weg in die Neonaziszene fand: sein Zwillingsbruder Maik. Gemeinsam bauten sie in den Neunzigerjahren die „Weiße Bruderschaft Erzgebirge“ auf und gaben das Szenemagazin „Aryan Law and Order“ heraus. Maik Eminger war später Stützpunktleiter der Jungen Nationaldemokraten und in der Partei Der III. Weg aktiv. Der Brandenburger Verfassungsschutz bezeichnete ihn als „langjährig aktive[n] und über die Landesgrenzen hinaus gut vernetzte[n] und einflussreiche[n] Neonationalsozialist“. Nach der Selbstenttarnung des NSU versteckte sich André Eminger mit seiner Familie auf dem Hof des Zwillingsbruders, wo er von Beamten der GSG 9 festgenommen wurde. Im Geburtsort der Emingers heißt es über die Brüder: „Der eine war schlau, der andere nicht. Dreimal dürfen Sie raten, wer in München auf der Anklagebank sitzt!“

Ein glaubwürdiger Ausstieg?

Bei Straftätern, die wegen terroristischer Verbrechen verurteilt worden sind, falle im Rahmen der Legalprognose entscheidend ins Gewicht, ob sich der Verurteilte glaubhaft von seiner früheren radikalen Einstellung gelöst und von seinen früheren Taten distanziert habe, führt das OLG München in seinem Beschluss aus und verweist auf mehrere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. 

André Eminger habe dazu dem Gericht erklärt, er habe „sich von jeglichem rechtsextremistischen Gedankengut distanziert und den Kontakt zur rechtsextremen Szene abgebrochen. Grund hierfür sei gewesen, dass er ein straffreies Leben mit Familie und Beruf führen wolle. Zuerst habe er sich aus den rechtsextremistischen Strukturen gelöst, mit der Zeit sei es ihm dann gelungen, das rechtsextremistische Gedankengut aus seinem Kopf zu streichen. Insbesondere höre er keine rechtsextremistische Musik mehr, die für ihn eine Art Gehirnwäsche darstelle.“

Diese Angaben seien laut Einschätzung des Gerichts im Beschluss „schlüssig und nachvollziehbar und damit glaubhaft“.

Zwar geht aus dem Beschluss ebenfalls hervor, dass Eminger noch bis zu seinem Haftantritt im Frühjahr 2022 Kontakt zu seinem Mitverurteilten Ralf Wohlleben hatte. Und auch zu anderen Rechtsextremen, mit denen ihm der Umgang fortan untersagt ist, habe er vorher noch im Austausch gestanden. Den Kontakt habe Eminger seinen Angaben zufolge aber abgebrochen. Seinen Ausstieg aus der rechten Szene habe er durch eine Rundmail bekannt geben wollen, die er nur deswegen nicht geschrieben habe, „weil ihm sein Verteidiger im Hinblick auf mögliche Repressalien aus der Szene davon abgeraten“ habe. 

Seit 2019 habe Eminger auch begonnen, seine zahlreichen rechtsextremen Tätowierungen unkenntlich machen zu lassen. Codes für Heil Hitler und SS-Insignien, ein Porträt von Horst Wessel, Wahlsprüche der Nationalsozialisten und über dem Bauchnabel die Aussage „Die Jew, Die!“ – der Spiegel beschrieb Emingers Körper einmal als „rassistische Litfaßsäule voller Nationalstolz und Vaterlandsliebe, voller Fremdenhass und Feindseligkeit“. Mittlerweile sei kein strafbares Tattoo mehr vorhanden. „Er darf jetzt mit seinen Kindern wieder ins Freibad gehen, ohne sich strafbar zu machen“, sagte Emingers Anwalt der Süddeutschen Zeitung

Wie oft kann man aus der rechten Szene aussteigen?

Dreimal erklärte André Eminger den Behörden gegenüber, dass er aus der Neonaziszene ausgestiegen sei. 

Das erste Mal will Eminger 2003 offiziell längst nichts mehr mit rechtsextremen Kreisen zu tun haben – als der Verfassungsschutz versucht, ihn als V-Mann zu werben. Zu dem Zeitpunkt hat der NSU bereits vier Menschen ermordet. Das Ehepaar Eminger ist regelmäßiger Gast in der Wohnung des Kern-Trios, Susann Eminger gilt als die beste Freundin von Beate Zschäpe. 

Wenige Tage nachdem sich der rechtsterroristische NSU 2011 selbst enttarnt, befragen Ermittler André Eminger. Was er ihnen erzählt: Er sei seit 13 Jahren aus der Neonaziszene ausgestiegen. Tatsächlich ist er seit genau diesem Zeitraum mit den NSU-Mitgliedern Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe bekannt.

Ein gutes Jahrzehnt später berichtet Eminger ein drittes Mal von seinem Ausstieg aus der Szene – diesmal im Rahmen seiner Bewährungsanhörung. „Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft im Jahr 2018 habe er sich mit seiner Familie wieder in das normale Leben ohne Politik, Gewalt und die rechte Szene ,gekämpft’“, notiert das Gericht in seinem Beschluss. Und: „Mitte 2019/Anfang 2020 habe er begonnen, sich von der rechten Szene und seiner politischen Weltanschauung zu lösen. Seither spielten Gewalt und Politik für ihn keine Rolle mehr.“ 

„Ich fühle mich verarscht”

Im NSU-Prozess hatte Eminger vor Gericht eisern geschwiegen. Er äußerte sich weder zu seiner eigenen Rolle im NSU-Komplex noch zu den zehn Morden oder der Frage, wie groß das Helfernetzwerk rund um das Kerntrio war. Stattdessen inszenierte er sich rund um dem Gerichtssaal mit Unterstützern aus der rechtsextremen Szene. Als einziger Angeklagter verzichtete Eminger im NSU-Prozess auf ein Schlusswort.

Im Rahmen seiner Bewährungsprüfung kommt das Gericht zu dem Schluss, dass Eminger begonnen habe, „sich mit der Tat, deretwegen er verurteilt wurde wenn auch nur oberflächlich, auseinanderzusetzen“. Er räume nunmehr ein, bereits 2007 gewusst zu haben, dass der NSU Raubüberfälle begangen hatte. Zugleich erklärte Eminger weiterhin, er habe es nicht für möglich gehalten, dass der NSU für zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge verantwortlich ist.

An dieser Darstellung hält Eminger auch nach seiner Freilassung fest. Vor dem bayrischen NSU-Untersuchungsausschuss, vor den er im Mai 2023 als Zeuge geladen wurde, gab er sich als unwissender, ausgenutzter Helfer. Toni Schuberl, der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses kommentierte, er fühle sich „verarscht“.

Auch Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız sieht Emingers behauptete Wandlung kritisch. Sie hatte im NSU-Prozess die Familie des Mordopfers Enver Şimşek vertreten. „Eminger war 438 Verhandlungstage beim NSU-Prozess anwesend und er hat in diesen 438 Tagen nicht einmal die Gelegenheit genutzt, Wissen über das Trio und die Helfer preiszugeben und somit zur Aufklärung beizutragen, sagt Başay-Yıldız. Sie erinnert daran, dass Eminger noch während des laufenden Prozesses an rechtsextremen Veranstaltungen teilgenommen hat. „Morgens war er Angeklagter im Prozess, abends Teilnehmer von rechtsextremen Demos”, schildert sie. Insofern sei es für sie wenig glaubhaft, dass Eminger sich ausgerechnet jetzt von der rechten Szene abgewandt und sich kritisch mit seinen Taten auseinandergesetzt habe.

Und selbst NSU-Terroristin Beate Zschäpe äußerte bereits Zweifel an dem Ausstieg ihres früheren Helfers. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, sagte sie in ihrer Befragung vor den Ausschussmitgliedern. Darauf angesprochen, ob sie Eminger den Anstieg zutraut, antwortete sie: „Schwierige Frage.“ Wenig später bezeichnet sie sich selbst hingegen als klare Aussteigerin. „Ich sehe mich so, ja!“, erklärte sie überzeugt.

„Nicht unerhebliches Rückfallrisiko“

Einen entscheidenden Einfluss darauf, ob ein verurteilter Straftäter auf Bewährung entlassen wird, ist die Frage, ob er dann möglicherweise erneut straffällig wird. Dazu führt das Gericht in seinem Beschluss teils Widersprüchliches aus. Eminger habe sich „seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 11.7.2018 bis zu Haftantritt am 5.4.2022, somit über dreieinhalb Jahre, straffrei geführt“. Dies zeige eine positive Entwicklung des Verurteilten auf, auch künftig ein straffreies Leben zu führen. 

Zudem lobt das Gericht, dass Eminger nun in der Lage sei, in Konfliktsituationen die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen: „So hat er, als das Auto seines Sohnes durch Dritte zerkratzt worden war, die Sache nicht selbst geregelt, wie er das früher getan hätte, sondern die Polizei eingeschaltet.“ 2017 hatte Eminger einem Achtzehnjährigen, der einen Konflikt mit seinem Sohn hatte, in einer Tiefgarage aufgelauert und ihn geschlagen und bedroht.

Entgegen dieser wohlwollenden Beurteilung betont das Gericht aber auch, es verkenne nicht, dass aufgrund der Primärpersönlichkeit Emingers ein „nicht unerhebliches Rückfallrisiko“ bestehe. Man sehe aber, dass der Verurteilte von sich aus Maßnahmen ergriffen habe, um einen Rückfall zu verhindern. 

Dementsprechend lautet das entscheidende Fazit des Gerichtsbeschlusses: „Die bisher bereits erfolgreichen Bemühungen des Angeklagten, straffrei zu leben, ergänzt durch die verhängten Bewährungsauflagen, erlauben es nach Ansicht des Senats, auch unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit, den Vollzug der Reststrafe zur Bewährung auszusetzen.“ 

Gericht will sich öffentlicher Kritik stellen

Dass die Frage, ob NSU-Helfer André Eminger berechtigterweise auf Bewährung entlassen wurde, öffentlich diskutiert werden muss, sieht interessanterweise auch das Gericht so, das darüber entschieden hat.

Wir haben den Bewährungsbeschluss beim OLG München unter Berufung auf das Auskunftsrecht der Presse angefragt. Das Gericht hat daraufhin sowohl den Generalbundesanwalt als auch Eminger darüber informiert. Eminger forderte über seinen Anwalt, dass der Beschluss nicht an uns herausgegeben werden soll. Dem folgte das Gericht jedoch nicht.

Stattdessen erklärte das OLG München in einer Verfügung zur Herausgabe des Dokuments, dass angesichts des „in Teilen der Bevölkerung hervorgerufenen Vertrauensverlustes in den Rechtsstaat” durch den Terror des NSU für das Gericht die Pflicht bestehe, „auch die Gründe für die Entscheidung, den noch nicht verbüßten Rest der verhängten Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sich der öffentlichen Kritik zu stellen”.

zum Herausgabe-Beschluss an FragDenStaat

zum Bewährungs-Beschluss in Sachen André Eminger

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OBERLANDESGERICHT MÜNCHEN


6 St 3/22 (12)
2 StE 8/12-5 GBA b. BGH




                              BESCHLUSS


Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München hat unter Mitwirkung des Vorsit-
                                                                             icht
zenden Richters am Oberlandesgericht Bösl sowie der Richter am Oberlandesger
Prechsl und Dr. Kuchenbauer




                       in dem Strafvollstreckungsverfahren


                                      gegen




E - A n d r e , geboren am                       in - · verheiratet, deutscher
    Staatsangehöriger, wohnhaft:                          ■,  - -·
                                                                                 ft
 derzeit in der JVA Tanna, Im Stemker 5, 99958 Tanna, in dieser Sache in Strafha


     Verteidiger: Rechtsanwalt                                                ,




                                      wegen


                  Unterstützung einer terroristischen Vereinigung
1

hier: Aussetzung der Reststrafe nach§ 57 Abs. 1 StGB




                                   am 13. Juli 2022




                                   beschlosen




1.     Die Vollstreckung des Restes der gegen den Verurteilten Andre E - durch
       Urteil des Senats vom 11. Juli 2018, Az.: 6 St 3/12, verhängten Freiheitsstrafe
       von 2 Jahren und 6 Monaten wird mit Ablauf von zwei Dritteln der Strafe zur
       Bewährung ausgesetzt.


II.    Die Dauer der Bewährungszeit wird auf 5 Jahre festgesetzt.


III.   Der Verurteilte wird für die Dauer der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung
       des örtlich zuständigen hauptamtlichen Bewährungshelfers unterstellt.


IV.    Dem Verurteilten werden folgende Weisungen erteilt:

       1)   Der Verurteilte hat nach seiner Entlassung aus der Haft unverzüglich unter
            der                      ■,       - -·         festen Wohnsitz zu
            nehmen, jeden Wohnsitzwechsel nur nach vorheriger Rücksprache mit
            dem Bewährungshelfer vorzunehmen und einen Wohnsitzwechsel unver-
            züglich dem Senat anzuzeigen.


       2)   Der Verurteilte hat nach seiner Entlassung aus der Haft unverzüglich bei
            der                           GmbH,
            - • sein Arbeitsverhältnis fortzuführen, eine Änderung des Arbeitge-
            bers nur nach vorheriger Rücksprache mit dem Bewährungshelfer vorzu-


                                                                                     2
2

nehmen und die Änderung des Arbeitgebers dem Senat unverzüglich mit-
      zuteilen.

3)    Der Verurteilte wird angewiesen, zu folgenden Personen keinen Kontakt
      aufzunehmen und mit ihnen weder persönlich, telefonisch, schriftlich noch
      über elektronische Kommunikationsmittel zu verkehren:

      a)


            -- --
            Beate
                  ·
      b)


            -  -·
            Ralf~
                  .. - -
      c)    Matthias   Rolf




      d)



      e)
                                                                       -
      f)



       g)
                                                                          -
 4)    Der Verurteilte wird angewiesen,


       a)    zu dem „Aussteigerprogramm Sachsen", Kontakt- und Informations-
             stelle,
                                                                 , persönlich, te-
             lefonisch, schriftlich oder über elektronische Kommunikationsmittel
             Kontakt aufzunehmen,

                                                                                  3
3

b)   nach näherer Bestimmung der Leitung dieses Programms an drei
               Anbahnungsgesprächen teilzunehmen,

          c)   nach näherer Bestimmung der Leitung dieses Programms ein Aus-
               steigerprogramm zu durchlaufen sowie

          d)   die Kontaktaufnahme, die Durchführung der Anbahnungsgespräche
               und des Aussteigerprogramms dem Senat jeweils unverzüglich
               nachzuweisen.



V.   Die Belehrung über die Dauer und das Wesen der Strafaussetzung zur Bewäh-
     rung wird der Justizvollzugsanstalt Tonna, Im Stemker 4, 99958 Tonna, über-
     tragen.




                                     Gründe:


                                          1.


1)   Der Senat hat den Antragsteller Andre E - mit Urteil vom 11.7.2018,
     Az.: 6 St 3 /12, rechtskräftig seit dem 15.12.2021, unter Freispruch im Übrigen
     wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe
     von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt.




     zllllll sowie die Verstorbenen Uwe        8-
     Hinsichtlich der Umstände, wie der Verurteilte E - die Verurteilte Beate
                                                         und Uwe M - kennenge-
     lernt hat, nimmt der Senat Bezug auf die Feststellungen in seinem Urteil vom
     11.7.2018 (Buch 1, Abschnitt II, Teil B, [10] = S. 68 f.). Daraus ergibt sich, dass
     der Verurteilte E - die rechtsextremistische Einstellung der drei unterge-
     tauchten Personen kannte und diese teilte. Auch hinsichtlich der Tat, deretwe-
     gen Andre E - verurteilt wurde, und ihrer Vorgeschichte nimmt der Senat
     auf die Feststellungen in seinem Urteil vom 11.7.2018 Bezug (Buch 1, Abschnitt

                                                                                       4
4

111, Teil B = S. 243 ff.). Daraus ergibt sich zusammengefasst, dass Andre EIII
     ■ nach vorheriger Absprache mit zumindest einer der drei Personen am
     8.5.2009 in einem Reisezentrum der „DB Bahn" zwei Bahn-Cards auf den Na-
     men „Susann E - " und „Andre E - " beantragt hat, wobei er Lichtbilder
     vorlegte, auf denen Uwe B - und Beate ~ abgebildet waren. Die
     ausgestellten Karten übergab er absprachegemäß an Beate ~ und Uwe
     B - zur Nutzung. In den beiden Folgejahren machte er von der Kündi-
     gungsmöglichkeit der Abonnements keinen Gebrauch, so dass diese entspre-
     chend verlängert wurden. Die übersandten Folgekarten für die Jahre 2010/2011
     und 2011/2012 übergab er jeweils vereinbarungsgemäß an Beate~ und
     Uwe B - . Hinsichtlich der Feststellungen des Senats zum Vorstellungs-
     bild des Verurteilten E - in Bezug auf den Zusammenschluss der drei Per-
     sonen, ihre Taten, seine Unterstützung durch den Erwerb der Bahn-Cards und
     seiner jeweiligen Billigung nimmt der Senat ebenfalls auf sein Urteil vom
     11.7.2018 Bezug (Buch 1, Abschnitt III, Teil B = S. 247 f.).


2)   In der Zeit vom 24.11.2011 bis zum 14.6.2012 befand sich der Verurteilte in der
     JVA Frankfurt und vom 12.9.2017 bis zum 11.7.2018 in der JVA München Sta-
     delheim in Untersuchungshaft. Mit Verfügung des Generalbundesanwalts vom
     23.2.2022 wurde er unter Fristsetzung bis zum 6.4.2022 zum Strafantritt gela-
     den. Er hat die Strafhaft am 5.4.2022 in der JVA Zwickau angetreten. Seit dem
     26.4.2022 befindet er sich in der JVA Tonna.


3)   Mit Schreiben seines anwaltlichen Vertreters vom 3.3.2022 hat der Verurteilte
     beantragt, nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe die Voll-
     streckung des Strafrestes aus dem Urteil des Senats vom 11.7.2021 zur Be-
     währung auszusetzen. Der Verurteilte hat am 23.3.2022 einer Aussetzung zu-
     gestimmt. Zwei Drittel der verhängten Strafe sind sind mit Ablauf des 15.7.2022
     verbüßt. Endstrafe tritt am 16.5.2023 ein.


     Zur Begründung seines Antrags trägt der Verurteilte zusammengefasst im We-
     sentlichen vor:




                                                                                   5
5

a)   Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft im Jahr 2018 habe er
     sich mit seiner Familie wieder in das normale Leben ohne Politik, Gewalt
     und die rechte Szene „gekämpft". Nach 5 ½ Jahren Gerichtsverhandlung
     und fast 17 Monaten Untersuchungshaft sei das ein schwere Weg gewe-
     sen.


b)   Seit 2005 sei er mit seiner Ehefrau Susann verheiratet. Sie hätten vier
     Kinder im Alter von   I bis ■ Jahren. Mit seiner Ehefrau und seinen Kin-
     dern lebe er in einem gemeinsamen Haushalt.


c)   Mitte 2019/Anfang 2020 habe er begonnen, sich von der rechten Szene
     und seiner politischen Weltanschauung zu lösen. Seither spielten Gewalt
     und Politik für ihn keine Rolle mehr. Er habe angefangen, seine national-
     sozialistischen und strafrechtlich relevanten Tätowierungen unkenntlich
     machen zu lassen. Seine Zeit verwende er ausschließlich für seine Fami-
     lie und seine Arbeit. Seit 2020 wohne er mit seiner Familie in - ·
     Dort hätten sie Anschluss an das gesellschaftliche Leben gefunden.


d)   Er besitze den Realschulabschluss, sei gelernter Maurer und gelernter
     Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung. Zudem habe er eine Wei-
     terbildung zum Berufskraftfahrer absolviert. Seit dem 1.3.2019 stehe er
     durchgehend in Arbeit. Im September 2020 habe er eine unbefristete Stel-
     le bei der Fa. R - zum 30.9.2020 gekündigt. Zum 1.10.2020 habe
     er bei der Fa.                               GmbH, - · zu arbeiten
     begonnen. Er arbeite dort als Kranführer und Transporter. Er sei für den
     Transport der Baumaterialien für die Produktion, das Verpacken und die
     Verladung verantwortlich. Die Arbeitsstelle bei der Fa.   ZII habe ihm sehr
     geholfen, von den politischen Dingen und der Szene Abstand zu gewin-
     nen. Der Geschäftsführer und der Betriebsrat hätten von seinem Haftan-
     tritt Kenntnis. Sie setzten sich für eine Fortführung des Arbeitsverhältnis-
     ses ein. Bei seiner Arbeitsstelle werde er nicht als Nazi oder Verbrecher,
     sondern als Kollege gesehen. Bei einer Entlassung zum Zwei-Drittel-
     Zeitpunkt der verhängten Freiheitsstrafe bliebe ihm der Arbeitsplatz erhal-
     ten. Eine entsprechende Bestätigung seines Arbeitgebers hat der Verur-
     teilte vorgelegt.
                                                                                6
6

· e)   Seine Familie und seine Arbeitsstelle seien die beiden Standbeine, die
            ihm helfen würden, ,,aufrecht zu stehen" und ein normales Leben zu füh-
            ren, bei dem Politik, Gewalt und Verbrechen keine Rolle spielen würden.

      f)    Am 13.11.2020 sei sein Vater verstorben. Seither benötige seine Mutter
            Hilfe im Haus, die er sich mit seinen Geschwistern teilen würde. Seitdem
            er die rechte Szene hinter sich gelassen habe, sei die Bindung zu seinen
            Geschwistern wieder fester und regelmäßiger geworden.


4)    Die JVA München ist mit Schreiben vom 14.2.2022 einer Strafaussetzung zur
       Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB entgegengetreten, da sich der Verurteilte
      von der rechtsextremen Szene nicht distanziert habe. Die JVA Frankfurt am
       Main I hat von einer inhaltlichen Stellungnahme abgesehen und die Entschei-
      dung mit Schreiben vom 16.2.2022 in das Ermessen des Senats gestellt. Die
       JVA Tonna hat mit Schreiben vom 1.6.2022 mitgeteilt, wegen eines fehlenden
       Diagnoseverfahrens zur Erstellung des Vollzugs- und Eingliederungsplans so-
       wie wegen der überschaubaren Verweildauer in der Justizvollzugsanstalt Tanna
      werde von einer inhaltlichen Stellungnahme abgesehen und die Entscheidung
       über die Strafaussetzung zur Bewährung in das Ermessen des Senats gestellt.
       Alle drei Justizvollzugsanstalten bescheinigen dem Verurteilten ein beanstan-
       dungsfreies Vollzugsverhalten. Auf die Stellungnahmen wird Bezug genommen.


5)     Das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz haben mit
       Schreiben vom 28.2.2022 bzw. 24.3.2022 zu Verbindungen des Verurteilten
       E - in die rechtsextremistische Szene Stellung genommen. Auf die Schrei-
       ben wird Bezug genommen.

6)     Der Senat hat zu der Frage, ob bei dem Verurteilten E - keine Gefahr
       mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fort-
       besteht (§ 454 Abs. 2 StPO), ein psychiatrisches Sachverständigengutachten
       des PD Dr. med. S _ , Institut für psychiatrische Gutachten, München, er-
       holt. Der Sachverständige befürwortet eine Strafaussetzung zur Bewährung
       zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt. Er regt an, das bestehende Rückfallrisiko durch


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Weisungen zu verringern. Auf das schriftliche Sachverständigengutachten vom
     8.6.2022 wird Bezug genommen.


7)   Die Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 3.6.2022 enthält über die ge-
     genständliche Verurteilung durch den Senat hinaus keine weiteren Eintragun-
     gen.

8)   Der Senat hat den Verurteilten und den Sachverständigen im Termin vom
     6.7.2022 angehört.

9)   Der Generalbundesanwalt ist mit Telefax-Schreiben vom 8.7.2022 einer Aus-
     setzung der Restfreiheitsstrafe nicht entgegengetreten.




                                           II.




Die Vollstreckung der gegen Andre E - verhängten Freiheitsstrafe war nach
Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe zur Bewährung auszusetzen.


1)   Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe
     nach § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB zur Bewährung aus, wenn zwei Drittel der ver-
     hängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate verbüßt sind (Ziff. 1), dies un-
     ter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet
     werden kann (Ziff. 2.), und die verurteilte Person einwilligt (Ziff. 3.). Bei der Ent-
     scheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vor-
     leben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten
     Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensver-
     hältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie
     zu erwarten sind (§ 57 Abs. 1 Satz 2 StGB).


     a)     Im Rahmen der nach § 57 Abs. 1 Ziff. 2 StGB zu stellenden Prognose ist
            eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des bereits erlit-
            tenen Vollzugs und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit erforder-
                                                                                          8
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lieh. Je nach der Schwere möglicher neuer Taten sind unterschiedliche
     Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Legalbewährung zu stellen.
     Dabei sind die Anforderungen umso höher, je gewichtiger die Rechtsgüter
     sind, die bei einem möglichen Rückfall verletzt würden. Sie dürfen aber
     nicht so erhöht werden, dass im Ergebnis kaum mehr eine Chance auf
     Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung verbleibt (Fischer, StGB, 69.
     Aufl. 2022, § 57 Rn. 12 mwN).


b)   Die vorzunehmende Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen
     des bereits erlittenen Strafvollzugs und dem Sicherheitsinteresse der All-
     gemeinheit kann auch bei terroristischen Verbrechen zu dem Ergebnis
     führen, dass die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug verantwortbar
     ist. Die Voraussetzungen an eine positive Legalprognose dürfen auch in
     diesem Bereich nicht so hochgeschraubt werden, dass dem Verurteilten
     kaum eine Chance auf eine vorzeitige Haftentlassung bleibt (BGH, Be-
     schluss vom 10.4.2014, StB 4/14, Rn. 3, zit. nach juris). Bei Straftätern,
     die wegen terroristischer Verbrechen verurteilt worden sind, fällt im Rah-
     men der Legalprognose entscheidend ins Gewicht, ob sich der Verurteilte
     glaubhaft von seiner früheren radikalen Einstellung gelöst und von seinen
     früheren Taten distanziert hat (BGH NStZ-RR 2018, 228; dazu auch BGH,
     Beschluss vom 10.4.2014, StB 4/14, Rn. 3, zit. nach juris).

c)   Verbüßt der Verurteilte erstmals eine Freiheitsstrafe, spricht eine Vermu-
     tung dafür, dass der Vollzug seine Wirkung erreicht hat, und dies der Be-
     gehung neuer Straftaten entgegenwirkt. Diese Vermutung kann durch ne-
     gative Umstände widerlegt oder durch die Art der abgeurteilten Taten ein-
     geschränkt sein (Fischer, aaO, § 57 Rn. 14 mwN).

d)   Die Strafaussetzung zur Bewährung darf nicht allein wegen der erhebli-
     chen Schuld des Täters oder wegen der besonderen Gefährlichkeit des
     Delikts versagt werden. Die Verteidigung der Rechtsordnung darf einer im
     Übrigen positiven Legalprognose nicht isoliert entgegengestellt werden
     (Fischer, aaO, § 57 Rn. 12b mwN).



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e)   Das Wagnis die Strafaussetzung zur Bewährung unter Berücksichtigung
          der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit zu verantworten, setzt keine
          Gewissheit künftiger Straffreiheit voraus, es genügt vielmehr eine nahelie-
          gende Chance für ein positives Ergebnis (Fischer, aaO, § 57 Rn. 14
          mwN). Das Maß der zu verlangenden Wahrscheinlichkeit für ein straffreies
          Leben des Verurteilten ist von dem Gewicht des bei einem Rückfall be-
          drohten Rechtsguts und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit ab-
          hängig (Groß/Kett-Straub, in: MüKom StGB, 4. Aufl. 2020, § 57 Rn. 16).
          Die kaum jemals zu erlangende Gewissheit, dass der Verurteilte dauerhaft
          keine Straftaten mehr begehen wird, ist selbst bei lebenslanger Freiheits-
          strafe keine Voraussetzung für die Reststrafenaussetzung (BGH NStZ
          2018, 228 229 unter Hw. auf BVerfG NStZ 1998, 373, 374).

     f)   Schließlich ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.
          Je länger der Freiheitsentzug insgesamt dauert, desto höher sind die Vo-
          raussetzungen, die an seine Verhältnismäßigkeit zu stellen sind (Fischer,
          aaO, § 57 Rn. 15 mwN).


2)   Unter Beachtung dieser Grundsätze ergibt sich Folgendes:


     a)   Zwei Drittel der verhängten Freiheitsstrafe sind mit Ablauf des 15.7.2022
          verbüßt (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 StGB). Der Verurteilte hat am 23.3.2022
          einer Aussetzung zugestimmt (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 3 StGB).


     b)   Unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit kann
          es verantwortet werden, den verbleibenden Rest der verhängten Frei-
          heitsstrafe nach Verbüßung von zwei Dritteln zur Bewährung auszusetzen
          (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 2 StGB). Der Senat hat die für die Legalprognose
          relevanten Faktoren erhoben, gewichtet und im Rahmen einer Gesamt-
          abwägung gegeneinander abgewogen.

          i)   Prognoserelevante Faktoren, die die Erwartung künftiger Straffreiheit
               des Verurteilten begründen können:



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