Berliner Polizei schweigt zu Schmerzgriffen
Die Polizei in der Hauptstadt setzt bei Protesten umstrittene Schmerzgriffe gegenüber Demonstrant:innen ein – Unterlagen dazu möchte die Behörde aber lieber geheimhalten. Deshalb ziehen wir vor Gericht.

Achtung: Im folgenden Text geht es um (teils grafisch beschriebene) Polizeigewalt.
Eine junge Frau sitzt mitten auf einer Fahrbahn, ein Polizist versucht sie zum Aufstehen zu überreden – indem er ihr „unfassbare Schmerzen“ androht. Es ist eine Szene, wie sie in den vergangenen Wochen vielfach zu sehen war. In anderen Fällen blieb es nicht bei der Drohung. Polizist:innen fügen Aktivist:innen durch gleichzeitiges Drücken gegen Hinterkopf und Nase starke Schmerzen zu. Derartige Szenen stammen aus Aufnahmen von Protesten der „letzten Generation“ und „Ende Gelände“ und wurden zuletzt tausendfach in den sozialen Medien geteilt.
Doch nicht nur bei diesen Protesten nutzt die Polizei immer wieder sogenannte Nervendrucktechniken, besser bekannt als Schmerzgriffe. Das sind oft aus dem Kampfsport stammende Griffe, die dazu dienen, den Betroffenen teils extreme Schmerzen zuzufügen. Die Hoffnung der Polizei: die Betroffenen wollen diese Schmerzen nicht erleben und gehorchen den Anweisungen der Beamt:innen.
Zugleich sind diese Techniken stark umstritten, schon innerhalb der Polizei: Die Berliner Polizei sieht Schmerzgriffe als „rechtlich zulässige Transporttechnik“, die Bayerische Polizei hingegen lehnt sie als unverhältnismäßig ab.
Auch die öffentliche Debatte über Schmerzgriffe ist groß. Videos wie die eingangs beschriebenen sorgen immer wieder für Aufregung und Unverständnis in den sozialen Medien. Und auch unter Jurist:innen sieht man die Techniken zuweilen äußerst kritisch. Dorothee Mooser von der Universität Regensburg kommt in ihrer Doktorarbeit zum Schluss: „Die Nervendrucktechniken stellen eine unzulässige Maßnahme der Polizei dar und können gegen Menschenrechte verstoßen.“ Wenn die Polizei solche Griffe zum Erzwingen einer Handlung anwendet, also zum Beispiel, damit Aktivist:innen eine Straße verlassen, verstieße dies laut Mooser sogar gegen das Folterverbot aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und das Grundgesetz.
Die Polizei verweigert die Aussage
Nach welchen internen Regeln und Grundsätzen die Berliner Polizei die umstrittenen Schmerzgriffe genau einsetzt, ist nicht bekannt. Wir haben mittels des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) bei der Polizei Berlin die Dokumente angefordert, die Vorgaben und Empfehlungen zum Einsatz von Schmerzgriffen regeln.
Doch die Polizei hat unsere IFG-Anfrage abgelehnt. Ihre Begründung: Es gebe gar keine offiziellen Vorgaben dazu, ob, wann und wie Berliner Polizist:innen Schmerzgriffe einsetzen dürfen. Lediglich Trainingsunterlagen aus dem Handbuch Einsatztraining für Lehrkräfte und Schulungsvideos gäbe es. Dieses Handbuch sei allerdings geheim zu halten und als „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ (VS-NfD) eingestuft. Würden diese Trainingsunterlagen öffentlich bekannt, könnten sich Betroffene auf die Schmerzgriffe vorbereiten oder sich wehren, argumentiert die Polizei. Außerdem würde so das „Überraschungsmoment“ verloren gehen und damit die Gesundheit der Polizist:innen gefährdet.
Überzeugend scheint diese Argumentation nicht: Bereits 2018 hat das OVG Lüneburg entschieden, dass Schmerzgriffe – ähnlich wie Schusswaffen – gerade nicht ohne besondere Androhung verwendet werden dürfen. Ein Überraschungsmoment darf es demnach beim Einsatz von Schmerzgriffen nicht geben.
Außerdem kann man sich schon jetzt auf den Einsatz von Schmerzgriffen vorbereiten, denn es gibt bereits viele Informationen über sie. Sei es aus dem Kampfsport, aus Videos auf Sozialen Medien oder aus wissenschaftlichen Arbeiten zu solchen Griffen.
Wir ziehen vor Gericht
Wir fordern Transparenz über den Einsatz der umstrittenen Schmerzgriffe und verklagen daher jetzt die Berliner Polizei. Wir verlangen, dass sie uns die relevanten Teile des Handbuchs Einsatztrainings und die ihm zugrundeliegende Geschäftsanweisung „GA ZSE IV Nr. 3/2011 über das Einsatztraining der Polizei Berlin“ herausgibt. Damit wäre erstmals aus erster Hand bekannt, wie die Polizist:innen für solche Griffe ausgebildet werden.
Leider ist es nicht das erste Mal, dass die Polizei Berlin erst verklagt werden muss, um Informationen zu befreien: Sei es letztes Jahr wegen der Einsatzprotokolle zu Corona-Maßnahmen oder erst vor wenigen Monaten, um den Durchsuchungsbeschluss für die Rigaer 94 zu erhalten. Das IFG in Berlin wurde geschaffen, um die Kontrolle des staatlichen Handelns zu ermöglichen – dieser Kontrolle muss sich auch die Polizei stellen.
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raphael thomas - Rechtsanwälte - THOMAS RECHTSANWÄLTE - ORANIENBURGER STR. 23 - 10178 BERLIN Verwaltungsgericht Berlin Raphael Thomas Kirchstraße 7 Rechtsanwalt Fachanwalt für 10557 Berlin Gewerblichen Rechtsschutz Fachanwalt für Urheber - und Medienrecht Kay Witte Rechtsanwalt * Per beA Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz Vittorio de Vecchi Lajolo Avvocato Rechtsanwalt** Datenschutzbeauftragter (TÜV) David Werdermann LL.M. Rechtsanwalt * Frido Kent Rechtsanwalt * Jan Busemann Rechtsanwalt ** Dr. Vivian Kube, LL.M. Rechtsanwä ltin* Antonia Julitz Rechtsanwältin * Maître en droit Oranien burger Str. 23 10178 Berlin Tel : +49 30 220 6616 70 fax : +49 30 220 6616 77 Zweigstelle Chiemsee : Markstatt 6 83339 Chieming Info@thomas -law -office.com www .thomas -law -office.com * Angestellte(r) RA(in) ** Of Counsel/Freier Mitarbeiter Ihr Zeichen: VG 2 K 326/22 Unser Zeichen: 208-22 Datum: 21.12.2022 KLAGEB E G R Ü N D U N G In der Verwaltungsstreitsache ███████ gegen Land Berlin (Polizei Berlin) Bankverbindung: Kontoinhaber: Raphael Thomas; Bank: Deutsche Kreditbank AG, 10919 Berlin, Germany IBAN: DE71 1203 0000 1008 3448 95 BIC: BYLADEM 1001 Steuernummer: 34/559/00064 USt.-ID.: DE233979049

2 , bedanken wir uns für die erfolgte Akteneinsicht und begründen die Klage vom 14. November 2022 wie folgt. A. Sachverhalt Der Kläger macht gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zugang zu Informationen über den Einsatz von sogenannten Schmerzgriffen bei der Polizei Berlin geltend. Schmerzgriffe oder auch sogenannte Nervendrucktechniken sind aus dem Kampfsport stammende Griffe, die dazu dienen, den Betroffenen teils extreme Schmerzen zuzufügen. Die Griffe werden häufig im Kontext von Versammlungen als Zwangsmaßnahme eingesetzt, um die jeweilige polizeiliche Anord- nung, etwa einen Platzverweis, durchzusetzen. Ob und nach welchen Maßgaben der Einsatz dieser Techniken menschen- sowie polizeirechtlich zulässig und verfassungsgemäß ist, ist unter Jurist*innen stark umstritten (vgl. Dorothee Mooser, Nervendrucktechniken im Polizeieinsatz Unzulässiges Zwangsmittel und Verstoß gegen die Menschenrechte? Nomos, 2022; von Alexander Cremer und Felix W. Zimmermann, Androhung "unfassbarer Schmerzen" laut Polizei Berlin rechtmäßig, LTO, 18.11.2022). Der Kläger wandte sich daher per E-Mail am 18. August 2022 über die Internetplattform FragDenStaat an die Polizei Berlin und bat um Übersendung sämtlicher Vorgaben, Weisungen, Richtlinien, Rund- schreiben, Empfehlungen und vergleichbarer Dokumente zum Einsatz sogenannter Schmerzgriffe bzw. Nervendrucktechniken (Anlage K3). Mit Bescheid vom 26. August 2022 lehnte die Polizei Berlin den Antrag des Klägers ab (Anlage K2). Sie verwies darauf, dass die beantragten Unterlagen nicht Aktenbestandteil gem. § 3 Absatz 1 IFG Bln seien, da sie erst durch eine inhaltliche Aufbereitung generiert werden müssten. Trainingsunterlagen aus dem Handbuch Einsatztraining (HB ET) für Lehrkräfte und Schulungsvideos seien indes vorhanden. Diese beruhten auf der Geschäftsanweisung GA ZSE IV Nr. 3/2011 und seien daher – genau wie die Geschäftsanweisung – als VS - NfD (Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch) eingestuft. Die Akteneinsicht oder Auskunft sei daher gem. § 11 Var. 2 IFG Bln zu versagen. Eine Gefährdung für das Wohl des Bundes oder eines Landes ergebe sich daraus, dass sich aus einer Veröffentlichung der begehrten Informationen Rückschlüsse auf die gegenwärtige Organisation der Sicherheitsbehörden, die Art und Weise ihrer Informationsbeschaffung sowie aktuelle Ausbildungsmethoden ableiten ließen. Ins- besondere ließen die Trainingsunterlagen den ersten konkreten polizeilichen Angriffspunkt am Körper

3 der Betroffenen erkennen. Dies führe zum Verlust des Überraschungsmoments und ermögliche eine Vorbereitung oder Gegenwehr auf den polizeilichen Zugriff. Dies wiederum führe zu einer Gefährdung von Polizeikräften, einer möglichen Selbstgefährdung und mache schwerwiegende Folgeeingriffe (RSG/Einsatzstock) erforderlich. Auch eine beschränkte Akteneinsicht nach § 12 IFG Bln komme nicht in Betracht, da nach der kosten- verursachenden Unkenntlichmachung der geheimhaltungsbedürftigen Passagen nur Textfragmente ohne Informationsgehalt übrig blieben, an denen kein Auskunftsinteresse mehr bestünde. Der Kläger erhob am 22. September 2022 Widerspruch. Er wies darauf hin, dass eine Vorbereitung auf Schmerzgriffe und Nervendrucktechniken bereits jetzt schon möglich und üblich sein. Die Techniken seien der Öffentlichkeit hinreichend bekannt, da sie teilweise aus dem Kampfsport stammen und die jahrelange Nutzungspraxis wissenschaftlich dokumentiert sei (unter anderem in der Dissertation von Dorothee Mooser, Nervendrucktechniken im Polizeieinsatz, Nomos 2022). Darüber hinaus könne der Verlust des Überraschungsmoments keinen Ablehnungsgrund darstellen, da der Einsatz von Nerven- drucktechniken vorab angedroht werden müsse (mit Verweis auf VG Göttingen, Az. 1 A 296/16). Mit Bescheid vom 11. Oktober 2022, dem Kläger zugestellt am 14. Oktober 2022, wies das beklagte Land den Widerspruch des Klägers zurück (Anlage K1). Bezüglich der begehrten Rundschreiben, Vor- gaben Richtlinien und ähnlichen Unterlagen änderte die Polizei Berlin die Begründung. Sie führte nicht länger die inhaltliche Aufbereitung und damit Generierung der streitgegenständlichen Informationen als Grund an, sondern berief sich nur noch darauf, dass diese tatsächlich nicht vorhanden seien. Bezüglich der Trainingsunterlagen aus dem Handbuch Einsatztraining (HB ET) und den Schulungsvideos wieder- holte die Polizei Berlin ihre Begründung aus dem Ausgangsbescheid. Ergänzend fügte sie hinzu, dass der Verlust des Überraschungsmoments deswegen ein Ablehnungsgrund sei, weil nur die Anwendung körperlicher Gewalt angedroht werden müsse, aber nicht die Anwendung einer bestimmten Technik. Auch nach dem vom Kläger zitierten Urteil des VG Göttingen (Az.: 1 A 296/16) bedürfe es keiner ge- sonderten Androhung. B. Rechtliche Würdigung Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids ist rechts- widrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 IFG Bln einen Anspruch auf Zugänglichmachung der begehrten Informationen, namentlich auf Zugänglichmachung der Geschäftsanweisung GA ZSE IV Nr. 3/2011 über das Einsatztraining der Polizei Berlin sowie der

4 Trainingsunterlagen aus dem Handbuch Einsatztraining (HB ET) soweit diese Informationen über den Einsatz sogenannter Schmerzgriffe bzw. Nervendrucktechniken enthalten. Die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 IFG Bln sind vorliegend gegeben. Das beklagte Land hat das Vorliegen von Ausschlussgründen nach dem IFG Berlin nicht plausibel dargelegt. 1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 IFG Bln hat jeder Mensch nach Maßgabe dieses Gesetzes gegenüber den in § 2 IFG Bln genannten öffentlichen Stellen nach seiner Wahl ein Recht auf Einsicht in oder Auskunft über den Inhalt der von der öffentlichen Stelle geführten Akten. Der Kläger ist als natürliche Person anspruchsberechtigt, die Polizei Berlin ist eine öffentliche Stelle im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 IFG Bln und damit anspruchsverpflichtet. Bei den streitgegenständlichen Unterlagen handelt es sich um Inhalt der von der Polizei Berlin geführten Akten, wie sich auch aus dem Aktenplan der Polizei Berlin ergibt (siehe Aktenplan der Polizei Berlin, Stand: 27. Dezember 2017, Nummer 02709, Anlage K4). 2. Dem Anspruch des Klägers stehen auch keine Ablehnungsgründe entgegen. Als informationspflichtige Stelle ist es an der Polizei Berlin, plausibel darzulegen, dass einer der im IFG Berlin normierten Ausnah- metatbestände vorliegt. Das erkennende Gericht hat dafür folgenden Maßstab aufgestellt (vgl. VG Berlin, Urteil vom 25.08.2016 – 2 K 92.15, Rn. 23): Die Angaben müssen nicht so detailliert sein, dass Rück- schlüsse auf die geschützte Information möglich sind, sie müssen aber so einleuchtend und nachvoll- ziehbar sein, dass das Vorliegen von Ausschlussgründen geprüft werden kann. Erforderlich ist hierfür eine einzelfallbezogene, hinreichend substantiierte und konkrete Darlegung, aus welchen Gründen – hier – öffentliche Schutzbelange dem geltend gemachten Anspruch auf Informationsgewährung entge- genstehen. Es genügt nicht, wenn das Vorliegen eines Geheimhaltungsgrundes von der Behörde ledig- lich behauptet wird. Vielmehr ist grundsätzlich für die einzelne Information, d.h. Blatt für Blatt (ggf. Wort für Wort) darzulegen, welcher Ausschlussgrund im Einzelnen eingreift. Nur so kann das Gericht prüfen, ob die Akte vollumfänglich vom Ausschlussgrund betroffen oder nach § 12 IFG Bln bezogen auf einzelne Aktenteile Informationszugang zu gewähren ist. Dem ist die Beklagte nicht ausreichend nachgekom- men. a)

5 Zunächst beruft sich die Polizei Berlin darauf, dass das Handbuch wie auch die Geschäftsanweisung als Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD) eingestuft sind. Die Einstufung als VS-NfD ist jedoch kein eigenständiger Ablehnungsgrund im IFG Berlin. Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts selbst nach dem IFG des Bundes, das in § 3 Nr. 4 IFG einen Ablehnungstatbestand für Verschlusssachen normiert, der Zugangs- anspruch nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil die Informationen formal als Verschlusssache ein- gestuft sind. Vielmehr kommt es selbst dann darauf an, ob die materiellen Gründe für eine solche Ein- stufung noch vorliegen. Dies hat – bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entschei- dung – die um Informationszugang ersuchte Behörde darzulegen und unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung (BVerwG, Urteil vom 28. Februar 2019, BVerwG 7 C 20.17 –juris, Rn. 33). Das beklagte Land hat dazu nichts Näheres vorgetragen. Aus einer schriftlichen Anfrage des Abgeordneten im Ab- geordnetenhaus Berlin Hakan Taş (LINKE) ergibt sich zudem, dass für die antragsgegenständliche Ge- schäftsanweisung zum Zeitpunkt der Anfrage, also im September 2015, noch keine VS-Einstufung galt (Anlage K5). b) Gem. § 11 IFG Bln darf die Akteneinsicht oder Aktenauskunft nur versagt werden, wenn das Bekannt- werden des Akteninhalts dem Wohle des Bundes oder eines deutschen Landes schwerwiegende Nach- teile bereiten oder zu einer schwerwiegenden Gefährdung des Gemeinwohls führen würde. Hiervon sind Beeinträchtigungen und Gefährdungen des Bestands und der Funktionsfähigkeit des Staates und sei- ner wesentlichen Einrichtungen, insbesondere Beeinträchtigungen der inneren und äußeren Sicherheit erfasst (VG Berlin, Urteil vom 25.08.2016 – 2 K 92.15, Rn. 31). Nach der Judikatur zu § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO muss der Nachteil von erheblichem Gewicht sein (s. BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2012 – 20 F 10/11 –, juris, Rn. 8); in § 11 wird dies ausdrücklich durch das Erfordernis eines „schwerwiegen- den“ Nachteils angeordnet (BeckOK InfoMedienR/Schirmer IFG § 11 Rn. 6). Zunächst bleibt anhand der bisherigen Darlegungen unklar, auf welche Variante bzw. auf welches Schutzgut sich das beklagte Land konkret beruft. Das beklagte Land zählt pauschal § 11 Var. 2 IFG Bln, die gegenwärtige Organisation der Sicherheitsbehörden, die Art und Weise ihrer Informationsbe- schaffung sowie aktuelle Ausbildungsmethoden als Schutzgüter auf. Unklar bleibt, auf welches in § 11 IFG Bln genannte Schutzgut sowie auf welches in der Rechtsprechung anerkannte Schutzgut sich das beklagte Land beziehen möchte. Des Weiteren wird der Zusammenhang zwischen einem dieser Schutzgüter und den dann folgenden Ausführungen nicht nachvollziehbar dargelegt. Die dann folgen- den Ausführungen sind aber auch für sich genommen schon nicht plausibel.

6 Das beklagte Land trägt vor, dass sich aus den Trainingsunterlagen der erste konkrete polizeiliche An- griffspunkt am Körper der Betroffenen erkennen ließe. Dies führe zum Verlust des Überraschungsmo- ments und ermögliche eine Vorbereitung oder Gegenwehr auf den polizeilichen Zugriff. Dies wiederum führe zu einer Gefährdung von Polizeikräften, einer möglichen Selbstgefährdung und mache schwer- wiegende Folgeeingriffe (RSG/Einsatzstock) erforderlich. Zunächst ist schon fraglich, dass der Verlust des Überraschungsmoments taugliches Schutzgut im Sinne des § 11 IFG Bln sein kann. Geheimhaltungsgründe müssen mit der Rechtsordnung im Einklang stehen. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Einsatz einer Nervendruck- technik als Maßnahme des unmittelbaren Zwanges gesondert anzudrohen ist (OVG Lüneburg, Urteil vom 28. Oktober 2016 – 11 LB 209/15 –, juris, Rn. 27, 28). Die vollstreckungsrechtliche Androhung muss sich demnach auf ein bestimmtes Zwangsmittel beziehen. Diese Regelung im Vollstreckungsrecht ist Ausdruck des in § 37 Abs. 1 VwVfG allgemein normierten Gebots der hinreichenden inhaltlichen Bestimmtheit von Verwaltungsakten. Das Bestimmtheitsgebot soll die Vorhersehbarkeit polizeilichen Handelns sicherstellen. Bei Anwendung unmittelbaren Zwangs soll die betroffene Person Klarheit über die zu erwartenden Eingriffe in ihre körperliche Unversehrtheit erhalten. Zwar muss in der Regel nicht vor jeder einzelnen körperlichen Einwirkung auf die Person der Einsatz einer bestimmten Form des un- mittelbaren Zwangs angedroht werden. Eine Ausnahme von dem vorgenannten Grundsatz ist jedoch geboten, wenn die betroffene Person durch die Anwendung einer Nervendrucktechnik zur Vornahme einer Handlung gezwungen werden soll. Mit der Nervendrucktechnik wird empfindlich in die körperliche Unversehrtheit die betroffene Person eingegriffen. Durch den Druck auf Nervenpunkte wird ihr unmittel- bar ein nicht unerheblicher Schmerz zugefügt. Mit einer solchen schmerzhaften Behandlung muss die betroffene Person nicht unbedingt rechnen. Der Grundsatz der Vorhersehbarkeit polizeilichen Handelns gebietet es deshalb, die bewusste und gewollte Zufügung von nicht lediglich unerheblichen Schmerzen durch die Anwendung einer Nervendrucktechnik im Rahmen des unmittelbaren Zwangs gesondert an- zudrohen. Nur durch eine derartige vorherige Androhung wird die betroffene Person in die Lage versetzt, die Zufügung von Schmerzen dadurch zu verhindern, dass sie die geforderte Handlung vornimmt. Hier- durch wird zudem die Beugefunktion des Zwangsmittels verdeutlicht. Zusammengefasst bleibt damit – selbst wenn man entgegen der überzeugenden Kritik davon ausgeht, dass der Einsatz von Schmerzgriffen grundsätzlich zulässig sein kann – für die Erzeugung eines Über- raschungsmoments bei einem (nach oben erläuterten Grundsätzen) ordnungsgemäßen Einsatz von Schmerzgriffen als Beugemitteln kein Raum. Diese Technik ist demnach nur dann als Maßnahme des unmittelbaren Zwanges geeignet und kann nur dann zulässig sein, wenn sie gesondert angedroht wird. Welche Rolle bei einem (nach den oben erläuterten Grundsätzen) zulässigen Einsatz von Schmerzgriffen

7 ein Überraschungsmoment spielen soll, ist nicht nachvollziehbar. Ein Verhalten, durch das Polizeikräfte den Boden des Grundgesetzes verlassen, kann kein taugliches Schutzgut im Sinne des § 11 IFG Bln sein. Darüber hinaus sind die Zusammenhänge zwischen der Veröffentlichung und den vorgetragenen Be- fürchtungen nicht nachvollziehbar. Aufgrund zahlreicher Veröffentlichungen zu Schmerzgriffen und der Nervendrucktechnik sind die Techniken und die mögliche Art und Weise der Anwendung durch Polizei- kräfte im Grundsatz und zumindest teilweise auch detailliert der Öffentlichkeit bekannt. So beschreibt Frau Dr. Dorothee Mooser in ihrer Dissertation auf Basis von persönlichen und schriftli- chen Interviews mit den Polizeibehörden aus mehreren Bundesländern (i.E. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Bayern, Bran- denburg und Bremen) sowie eines Besuches in der Hochschule der Polizei Baden-Württembergs in Biberach detailliert Anwendungsbeispiele, Einsatzmöglichkeiten und Anwendungsschwierigkeiten (Seite 46 – 55). Unter anderen schildern ihre Interviewpartner*innen die Anwendung des Griffs in die Nerven- druckkehlkopfgrube, eine weitere Nervendrucktechnik an der Nasenwurzel (Seite 47) oder den beson- ders intensive Schmerzen auslösenden „Dreifachen Erwärmer 17“ aus der Kampfkunst des Kyusho- Jitsu (Seite 48). Im Übrigen sei auf das Fazit dieser Interviews hingewiesen, nach dem die Verhältnis- mäßigkeit von Schmerzen als Einsatzmittel nicht bedacht wird und in den verschiedenen Bundesländern „stark gegensätzliche Auffassung“ zu Nutzen, Schaden und Verhältnismäßigkeit der Nervendrucktech- nik existiert (S. 55). Des Weiteren sind gerade in den letzten Jahren zahlreiche Fotos und Videos von Polizeieinsätzen in den sozialen wie auch anderen Medien veröffentlicht worden, in denen die Anwendung der Schmerzgriffe genau zu sehen ist und anschließend von einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurde (vgl. Thread von Raphael Knipping vom 18. August 2022, https://twitter.com/RaphaelKnipping/sta- tus/1560341401803657219; Anti-Kohle-Kidz Hamburg vom 20. September 2022, https://twit- ter.com/AKK_Hamburg/status/1175092514350665728). Ein genaues Studium der praktizierten Anwendung der Schmerzgriffe durch die verschiedenen Polizei- behörden sowie eine gezielte Vorbereitung darauf ist daher jetzt schon möglich. Des Weiteren ist die Befürchtung des Verlustes des Überraschungsmoments nicht nachvollziehbar. Bei einem nach polizeirechtlichen Grundsätzen rechtmäßigen Einsatz von Schmerzgriffen muss dieser – wie oben dargelegt – gesondert angedroht werden. Ziel ist es die störende Person dazu zu bewegen der

8 polizeilichen Anordnung Folge zu leisten. Hierfür ist immer eine Kommunikation mit der betroffenen Per- son von Nöten, die dem Einsatz der Schmerzgriffe vorausgehen muss. Bei einem rechtmäßigen Vorge- hen ist damit die Erzeugung eines Überraschungsmoments ausgeschlossen. Soweit der Vortrag so zu verstehen ist, dass der Überraschungsmoment darin besteht, dass die betroffene Person nicht weiß, welcher konkrete Schmerzgriff an welcher Stelle des Körpers im Einzelfall angewandt wird, ergibt sich diese Information auch nicht aus den streitgegenständlichen Unterlagen. Auch wie es durch die Veröffentlichung zu Gefährdungen von Polizeikräften oder Selbstgefährdungen kommen oder diese gar den Einsatz von Schlagstöcken und Reizstoffsprühgerät nach sich ziehen soll, erläutert die Polizei Berlin nicht weiter. Der Klage ist daher stattzugeben. Dr. Kube Rechtsanwältin
