Wir klagenBerliner Polizei schweigt zu Schmerzgriffen

Die Polizei in der Hauptstadt setzt bei Protesten umstrittene Schmerzgriffe gegenüber Demonstrant:innen ein – Unterlagen dazu möchte die Behörde aber lieber geheimhalten. Deshalb ziehen wir vor Gericht.

-
Zwei Figuren im Streetfighter-Stil: "FragDenStaat" vs "Berliner Polizei". Im Hintergrund steht das Wort "Schmerzgriffe"

Achtung: Im folgenden Text geht es um (teils grafisch beschriebene) Polizeigewalt.

Eine junge Frau sitzt mitten auf einer Fahrbahn, ein Polizist versucht sie zum Aufstehen zu überreden – indem er ihr „unfassbare Schmerzen“ androht. Es ist eine Szene, wie sie in den vergangenen Wochen vielfach zu sehen war. In anderen Fällen blieb es nicht bei der Drohung. Polizist:innen fügen Aktivist:innen durch gleichzeitiges Drücken gegen Hinterkopf und Nase starke Schmerzen zu. Derartige Szenen stammen aus Aufnahmen von Protesten der „letzten Generation“ und „Ende Gelände“ und wurden zuletzt tausendfach in den sozialen Medien geteilt.

Doch nicht nur bei diesen Protesten nutzt die Polizei immer wieder sogenannte Nervendrucktechniken, besser bekannt als Schmerzgriffe. Das sind oft aus dem Kampfsport stammende Griffe, die dazu dienen, den Betroffenen teils extreme Schmerzen zuzufügen. Die Hoffnung der Polizei: die Betroffenen wollen diese Schmerzen nicht erleben und gehorchen den Anweisungen der Beamt:innen.

Zugleich sind diese Techniken stark umstritten, schon innerhalb der Polizei: Die Berliner Polizei sieht Schmerzgriffe als „rechtlich zulässige Transporttechnik“, die Bayerische Polizei hingegen lehnt sie als unverhältnismäßig ab.

Auch die öffentliche Debatte über Schmerzgriffe ist groß. Videos wie die eingangs beschriebenen sorgen immer wieder für Aufregung und Unverständnis in den sozialen Medien. Und auch unter Jurist:innen sieht man die Techniken zuweilen äußerst kritisch. Dorothee Mooser von der Universität Regensburg kommt in ihrer Doktorarbeit zum Schluss: „Die Nervendrucktechniken stellen eine unzulässige Maßnahme der Polizei dar und können gegen Menschenrechte verstoßen.“ Wenn die Polizei solche Griffe zum Erzwingen einer Handlung anwendet, also zum Beispiel, damit Aktivist:innen eine Straße verlassen, verstieße dies laut Mooser sogar gegen das Folterverbot aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und das Grundgesetz.

Die Polizei verweigert die Aussage

Nach welchen internen Regeln und Grundsätzen die Berliner Polizei die umstrittenen Schmerzgriffe genau einsetzt, ist nicht bekannt. Wir haben mittels des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) bei der Polizei Berlin die Dokumente angefordert, die Vorgaben und Empfehlungen zum Einsatz von Schmerzgriffen regeln.

Doch die Polizei hat unsere IFG-Anfrage abgelehnt. Ihre Begründung: Es gebe gar keine offiziellen Vorgaben dazu, ob, wann und wie Berliner Polizist:innen Schmerzgriffe einsetzen dürfen. Lediglich Trainingsunterlagen aus dem Handbuch Einsatztraining für Lehrkräfte und Schulungsvideos gäbe es. Dieses Handbuch sei allerdings geheim zu halten und als „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ (VS-NfD) eingestuft. Würden diese Trainingsunterlagen öffentlich bekannt, könnten sich Betroffene auf die Schmerzgriffe vorbereiten oder sich wehren, argumentiert die Polizei. Außerdem würde so das „Überraschungsmoment“ verloren gehen und damit die Gesundheit der Polizist:innen gefährdet.

Überzeugend scheint diese Argumentation nicht: Bereits 2018 hat das OVG Lüneburg entschieden, dass Schmerzgriffe – ähnlich wie Schusswaffen – gerade nicht ohne besondere Androhung verwendet werden dürfen. Ein Überraschungsmoment darf es demnach beim Einsatz von Schmerzgriffen nicht geben.

Außerdem kann man sich schon jetzt auf den Einsatz von Schmerzgriffen vorbereiten, denn es gibt bereits viele Informationen über sie. Sei es aus dem Kampfsport, aus Videos auf Sozialen Medien oder aus wissenschaftlichen Arbeiten zu solchen Griffen.

Wir ziehen vor Gericht

Wir fordern Transparenz über den Einsatz der umstrittenen Schmerzgriffe und verklagen daher jetzt die Berliner Polizei. Wir verlangen, dass sie uns die relevanten Teile des Handbuchs Einsatztrainings und die ihm zugrundeliegende Geschäftsanweisung „GA ZSE IV Nr. 3/2011 über das Einsatztraining der Polizei Berlin“ herausgibt. Damit wäre erstmals aus erster Hand bekannt, wie die Polizist:innen für solche Griffe ausgebildet werden.

Leider ist es nicht das erste Mal, dass die Polizei Berlin erst verklagt werden muss, um Informationen zu befreien: Sei es letztes Jahr wegen der Einsatzprotokolle zu Corona-Maßnahmen oder erst vor wenigen Monaten, um den Durchsuchungsbeschluss für die Rigaer 94 zu erhalten. Das IFG in Berlin wurde geschaffen, um die Kontrolle des staatlichen Handelns zu ermöglichen – dieser Kontrolle muss sich auch die Polizei stellen.

Unsere Klagen sind spendenfinanziert. Unterstütze uns hier.

Zur Anfrage

Zur Klage

Zur Klagebegründung

/ 8
PDF herunterladen
raphael     thomas
                                              - Rechtsanwälte -


THOMAS RECHTSANWÄLTE - ORANIENBURGER STR. 23 - 10178 BERLIN


Verwaltungsgericht Berlin                                                                              Raphael Thomas
Kirchstraße 7                                                                                          Rechtsanwalt
                                                                                                       Fachanwalt für
10557 Berlin                                                                                           Gewerblichen Rechtsschutz
                                                                                                       Fachanwalt für
                                                                                                       Urheber - und Medienrecht
                                                                                                       Kay Witte
                                                                                                       Rechtsanwalt *
Per beA                                                                                                Fachanwalt für
                                                                                                       Gewerblichen Rechtsschutz
                                                                                                       Vittorio de Vecchi Lajolo
                                                                                                       Avvocato
                                                                                                       Rechtsanwalt**
                                                                                                       Datenschutzbeauftragter (TÜV)
                                                                                                       David Werdermann LL.M.
                                                                                                       Rechtsanwalt *
                                                                                                       Frido Kent
                                                                                                       Rechtsanwalt *
                                                                                                       Jan Busemann
                                                                                                       Rechtsanwalt **
                                                                                                       Dr. Vivian Kube, LL.M.
                                                                                                       Rechtsanwä ltin*
                                                                                                       Antonia Julitz
                                                                                                       Rechtsanwältin *
                                                                                                       Maître en droit

                                                                                                       Oranien burger Str. 23
                                                                                                       10178 Berlin
                                                                                                       Tel : +49 30 220 6616 70
                                                                                                       fax : +49 30 220 6616 77
                                                                                                       Zweigstelle Chiemsee :
                                                                                                       Markstatt 6
                                                                                                       83339 Chieming
                                                                                                       Info@thomas -law -office.com
                                                                                                       www .thomas -law -office.com
                                                                                                       * Angestellte(r) RA(in)
                                                                                                       ** Of Counsel/Freier Mitarbeiter




                                                                                     Ihr Zeichen:        VG 2 K 326/22
                                                                                  Unser Zeichen:         208-22
                                                                                         Datum:          21.12.2022

                                            KLAGEB E G R Ü N D U N G

In der Verwaltungsstreitsache
                                                              ███████
                                                                  gegen
                                                         Land Berlin (Polizei Berlin)
                                                                Bankverbindung:
                               Kontoinhaber: Raphael Thomas; Bank: Deutsche Kreditbank AG, 10919 Berlin, Germany
                                            IBAN: DE71 1203 0000 1008 3448 95 BIC: BYLADEM 1001
                                               Steuernummer: 34/559/00064 USt.-ID.: DE233979049
1

2



                                                                                                       ,


bedanken wir uns für die erfolgte Akteneinsicht und begründen die Klage vom 14. November 2022 wie
folgt.


A. Sachverhalt


Der Kläger macht gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zugang zu Informationen über den Einsatz
von sogenannten Schmerzgriffen bei der Polizei Berlin geltend.


Schmerzgriffe oder auch sogenannte Nervendrucktechniken sind aus dem Kampfsport stammende
Griffe, die dazu dienen, den Betroffenen teils extreme Schmerzen zuzufügen. Die Griffe werden häufig
im Kontext von Versammlungen als Zwangsmaßnahme eingesetzt, um die jeweilige polizeiliche Anord-
nung, etwa einen Platzverweis, durchzusetzen. Ob und nach welchen Maßgaben der Einsatz dieser
Techniken menschen- sowie polizeirechtlich zulässig und verfassungsgemäß ist, ist unter Jurist*innen
stark umstritten (vgl. Dorothee Mooser, Nervendrucktechniken im Polizeieinsatz
Unzulässiges Zwangsmittel und Verstoß gegen die Menschenrechte? Nomos, 2022; von Alexander
Cremer und Felix W. Zimmermann, Androhung "unfassbarer Schmerzen" laut Polizei Berlin rechtmäßig,
LTO, 18.11.2022).


Der Kläger wandte sich daher per E-Mail am 18. August 2022 über die Internetplattform FragDenStaat
an die Polizei Berlin und bat um Übersendung sämtlicher Vorgaben, Weisungen, Richtlinien, Rund-
schreiben, Empfehlungen und vergleichbarer Dokumente zum Einsatz sogenannter Schmerzgriffe bzw.
Nervendrucktechniken (Anlage K3).


Mit Bescheid vom 26. August 2022 lehnte die Polizei Berlin den Antrag des Klägers ab (Anlage K2). Sie
verwies darauf, dass die beantragten Unterlagen nicht Aktenbestandteil gem. § 3 Absatz 1 IFG Bln
seien, da sie erst durch eine inhaltliche Aufbereitung generiert werden müssten. Trainingsunterlagen aus
dem Handbuch Einsatztraining (HB ET) für Lehrkräfte und Schulungsvideos seien indes vorhanden.
Diese beruhten auf der Geschäftsanweisung GA ZSE IV Nr. 3/2011 und seien daher – genau wie die
Geschäftsanweisung – als VS - NfD (Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch) eingestuft. Die
Akteneinsicht oder Auskunft sei daher gem. § 11 Var. 2 IFG Bln zu versagen. Eine Gefährdung für das
Wohl des Bundes oder eines Landes ergebe sich daraus, dass sich aus einer Veröffentlichung der
begehrten Informationen Rückschlüsse auf die gegenwärtige Organisation der Sicherheitsbehörden, die
Art und Weise ihrer Informationsbeschaffung sowie aktuelle Ausbildungsmethoden ableiten ließen. Ins-
besondere ließen die Trainingsunterlagen den ersten konkreten polizeilichen Angriffspunkt am Körper
2

3



der Betroffenen erkennen. Dies führe zum Verlust des Überraschungsmoments und ermögliche eine
Vorbereitung oder Gegenwehr auf den polizeilichen Zugriff. Dies wiederum führe zu einer Gefährdung
von Polizeikräften, einer möglichen Selbstgefährdung und mache schwerwiegende Folgeeingriffe
(RSG/Einsatzstock) erforderlich.


Auch eine beschränkte Akteneinsicht nach § 12 IFG Bln komme nicht in Betracht, da nach der kosten-
verursachenden Unkenntlichmachung der geheimhaltungsbedürftigen Passagen nur Textfragmente
ohne Informationsgehalt übrig blieben, an denen kein Auskunftsinteresse mehr bestünde.


Der Kläger erhob am 22. September 2022 Widerspruch. Er wies darauf hin, dass eine Vorbereitung auf
Schmerzgriffe und Nervendrucktechniken bereits jetzt schon möglich und üblich sein. Die Techniken
seien der Öffentlichkeit hinreichend bekannt, da sie teilweise aus dem Kampfsport stammen und die
jahrelange Nutzungspraxis wissenschaftlich dokumentiert sei (unter anderem in der Dissertation von
Dorothee Mooser, Nervendrucktechniken im Polizeieinsatz, Nomos 2022). Darüber hinaus könne der
Verlust des Überraschungsmoments keinen Ablehnungsgrund darstellen, da der Einsatz von Nerven-
drucktechniken vorab angedroht werden müsse (mit Verweis auf VG Göttingen, Az. 1 A 296/16).


Mit Bescheid vom 11. Oktober 2022, dem Kläger zugestellt am 14. Oktober 2022, wies das beklagte
Land den Widerspruch des Klägers zurück (Anlage K1). Bezüglich der begehrten Rundschreiben, Vor-
gaben Richtlinien und ähnlichen Unterlagen änderte die Polizei Berlin die Begründung. Sie führte nicht
länger die inhaltliche Aufbereitung und damit Generierung der streitgegenständlichen Informationen als
Grund an, sondern berief sich nur noch darauf, dass diese tatsächlich nicht vorhanden seien. Bezüglich
der Trainingsunterlagen aus dem Handbuch Einsatztraining (HB ET) und den Schulungsvideos wieder-
holte die Polizei Berlin ihre Begründung aus dem Ausgangsbescheid. Ergänzend fügte sie hinzu, dass
der Verlust des Überraschungsmoments deswegen ein Ablehnungsgrund sei, weil nur die Anwendung
körperlicher Gewalt angedroht werden müsse, aber nicht die Anwendung einer bestimmten Technik.
Auch nach dem vom Kläger zitierten Urteil des VG Göttingen (Az.: 1 A 296/16) bedürfe es keiner ge-
sonderten Androhung.


B. Rechtliche Würdigung


Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids ist rechts-
widrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 IFG Bln einen
Anspruch auf Zugänglichmachung der begehrten Informationen, namentlich auf Zugänglichmachung
der Geschäftsanweisung GA ZSE IV Nr. 3/2011 über das Einsatztraining der Polizei Berlin sowie der
3

4



Trainingsunterlagen aus dem Handbuch Einsatztraining (HB ET) soweit diese Informationen über den
Einsatz sogenannter Schmerzgriffe bzw. Nervendrucktechniken enthalten.


Die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 IFG Bln sind vorliegend gegeben. Das beklagte Land hat
das Vorliegen von Ausschlussgründen nach dem IFG Berlin nicht plausibel dargelegt.


1.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 IFG Bln hat jeder Mensch nach Maßgabe dieses Gesetzes gegenüber den in §
2 IFG Bln genannten öffentlichen Stellen nach seiner Wahl ein Recht auf Einsicht in oder Auskunft über
den Inhalt der von der öffentlichen Stelle geführten Akten.


Der Kläger ist als natürliche Person anspruchsberechtigt, die Polizei Berlin ist eine öffentliche Stelle im
Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 IFG Bln und damit anspruchsverpflichtet.


Bei den streitgegenständlichen Unterlagen handelt es sich um Inhalt der von der Polizei Berlin geführten
Akten, wie sich auch aus dem Aktenplan der Polizei Berlin ergibt (siehe Aktenplan der Polizei Berlin,
Stand: 27. Dezember 2017, Nummer 02709, Anlage K4).


2.
Dem Anspruch des Klägers stehen auch keine Ablehnungsgründe entgegen. Als informationspflichtige
Stelle ist es an der Polizei Berlin, plausibel darzulegen, dass einer der im IFG Berlin normierten Ausnah-
metatbestände vorliegt. Das erkennende Gericht hat dafür folgenden Maßstab aufgestellt (vgl. VG Berlin,
Urteil vom 25.08.2016 – 2 K 92.15, Rn. 23): Die Angaben müssen nicht so detailliert sein, dass Rück-
schlüsse auf die geschützte Information möglich sind, sie müssen aber so einleuchtend und nachvoll-
ziehbar sein, dass das Vorliegen von Ausschlussgründen geprüft werden kann. Erforderlich ist hierfür
eine einzelfallbezogene, hinreichend substantiierte und konkrete Darlegung, aus welchen Gründen –
hier – öffentliche Schutzbelange dem geltend gemachten Anspruch auf Informationsgewährung entge-
genstehen. Es genügt nicht, wenn das Vorliegen eines Geheimhaltungsgrundes von der Behörde ledig-
lich behauptet wird. Vielmehr ist grundsätzlich für die einzelne Information, d.h. Blatt für Blatt (ggf. Wort
für Wort) darzulegen, welcher Ausschlussgrund im Einzelnen eingreift. Nur so kann das Gericht prüfen,
ob die Akte vollumfänglich vom Ausschlussgrund betroffen oder nach § 12 IFG Bln bezogen auf einzelne
Aktenteile Informationszugang zu gewähren ist. Dem ist die Beklagte nicht ausreichend nachgekom-
men.


a)
4

5



Zunächst beruft sich die Polizei Berlin darauf, dass das Handbuch wie auch die Geschäftsanweisung
als Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD) eingestuft sind. Die Einstufung als VS-NfD
ist jedoch kein eigenständiger Ablehnungsgrund im IFG Berlin.


Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts selbst nach dem IFG des
Bundes, das in § 3 Nr. 4 IFG einen Ablehnungstatbestand für Verschlusssachen normiert, der Zugangs-
anspruch nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil die Informationen formal als Verschlusssache ein-
gestuft sind. Vielmehr kommt es selbst dann darauf an, ob die materiellen Gründe für eine solche Ein-
stufung noch vorliegen. Dies hat – bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entschei-
dung – die um Informationszugang ersuchte Behörde darzulegen und unterliegt der vollen gerichtlichen
Überprüfung (BVerwG, Urteil vom 28. Februar 2019, BVerwG 7 C 20.17 –juris, Rn. 33). Das beklagte
Land hat dazu nichts Näheres vorgetragen. Aus einer schriftlichen Anfrage des Abgeordneten im Ab-
geordnetenhaus Berlin Hakan Taş (LINKE) ergibt sich zudem, dass für die antragsgegenständliche Ge-
schäftsanweisung zum Zeitpunkt der Anfrage, also im September 2015, noch keine VS-Einstufung galt
(Anlage K5).




b)
Gem. § 11 IFG Bln darf die Akteneinsicht oder Aktenauskunft nur versagt werden, wenn das Bekannt-
werden des Akteninhalts dem Wohle des Bundes oder eines deutschen Landes schwerwiegende Nach-
teile bereiten oder zu einer schwerwiegenden Gefährdung des Gemeinwohls führen würde. Hiervon sind
Beeinträchtigungen und Gefährdungen des Bestands und der Funktionsfähigkeit des Staates und sei-
ner wesentlichen Einrichtungen, insbesondere Beeinträchtigungen der inneren und äußeren Sicherheit
erfasst (VG Berlin, Urteil vom 25.08.2016 – 2 K 92.15, Rn. 31). Nach der Judikatur zu § 99 Abs. 1 S. 2
VwGO muss der Nachteil von erheblichem Gewicht sein (s. BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2012 –
20 F 10/11 –, juris, Rn. 8); in § 11 wird dies ausdrücklich durch das Erfordernis eines „schwerwiegen-
den“ Nachteils angeordnet (BeckOK InfoMedienR/Schirmer IFG § 11 Rn. 6).


Zunächst bleibt anhand der bisherigen Darlegungen unklar, auf welche Variante bzw. auf welches
Schutzgut sich das beklagte Land konkret beruft. Das beklagte Land zählt pauschal § 11 Var. 2 IFG
Bln, die gegenwärtige Organisation der Sicherheitsbehörden, die Art und Weise ihrer Informationsbe-
schaffung sowie aktuelle Ausbildungsmethoden als Schutzgüter auf. Unklar bleibt, auf welches in § 11
IFG Bln genannte Schutzgut sowie auf welches in der Rechtsprechung anerkannte Schutzgut sich das
beklagte Land beziehen möchte. Des Weiteren wird der Zusammenhang zwischen einem dieser
Schutzgüter und den dann folgenden Ausführungen nicht nachvollziehbar dargelegt. Die dann folgen-
den Ausführungen sind aber auch für sich genommen schon nicht plausibel.
5

6




Das beklagte Land trägt vor, dass sich aus den Trainingsunterlagen der erste konkrete polizeiliche An-
griffspunkt am Körper der Betroffenen erkennen ließe. Dies führe zum Verlust des Überraschungsmo-
ments und ermögliche eine Vorbereitung oder Gegenwehr auf den polizeilichen Zugriff. Dies wiederum
führe zu einer Gefährdung von Polizeikräften, einer möglichen Selbstgefährdung und mache schwer-
wiegende Folgeeingriffe (RSG/Einsatzstock) erforderlich.


Zunächst ist schon fraglich, dass der Verlust des Überraschungsmoments taugliches Schutzgut im
Sinne des § 11 IFG Bln sein kann. Geheimhaltungsgründe müssen mit der Rechtsordnung im Einklang
stehen. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Einsatz einer Nervendruck-
technik als Maßnahme des unmittelbaren Zwanges gesondert anzudrohen ist (OVG Lüneburg, Urteil
vom 28. Oktober 2016 – 11 LB 209/15 –, juris, Rn. 27, 28). Die vollstreckungsrechtliche Androhung
muss sich demnach auf ein bestimmtes Zwangsmittel beziehen. Diese Regelung im Vollstreckungsrecht
ist Ausdruck des in § 37 Abs. 1 VwVfG allgemein normierten Gebots der hinreichenden inhaltlichen
Bestimmtheit von Verwaltungsakten. Das Bestimmtheitsgebot soll die Vorhersehbarkeit polizeilichen
Handelns sicherstellen. Bei Anwendung unmittelbaren Zwangs soll die betroffene Person Klarheit über
die zu erwartenden Eingriffe in ihre körperliche Unversehrtheit erhalten. Zwar muss in der Regel nicht
vor jeder einzelnen körperlichen Einwirkung auf die Person der Einsatz einer bestimmten Form des un-
mittelbaren Zwangs angedroht werden. Eine Ausnahme von dem vorgenannten Grundsatz ist jedoch
geboten, wenn die betroffene Person durch die Anwendung einer Nervendrucktechnik zur Vornahme
einer Handlung gezwungen werden soll. Mit der Nervendrucktechnik wird empfindlich in die körperliche
Unversehrtheit die betroffene Person eingegriffen. Durch den Druck auf Nervenpunkte wird ihr unmittel-
bar ein nicht unerheblicher Schmerz zugefügt. Mit einer solchen schmerzhaften Behandlung muss die
betroffene Person nicht unbedingt rechnen. Der Grundsatz der Vorhersehbarkeit polizeilichen Handelns
gebietet es deshalb, die bewusste und gewollte Zufügung von nicht lediglich unerheblichen Schmerzen
durch die Anwendung einer Nervendrucktechnik im Rahmen des unmittelbaren Zwangs gesondert an-
zudrohen. Nur durch eine derartige vorherige Androhung wird die betroffene Person in die Lage versetzt,
die Zufügung von Schmerzen dadurch zu verhindern, dass sie die geforderte Handlung vornimmt. Hier-
durch wird zudem die Beugefunktion des Zwangsmittels verdeutlicht.


Zusammengefasst bleibt damit – selbst wenn man entgegen der überzeugenden Kritik davon ausgeht,
dass der Einsatz von Schmerzgriffen grundsätzlich zulässig sein kann – für die Erzeugung eines Über-
raschungsmoments bei einem (nach oben erläuterten Grundsätzen) ordnungsgemäßen Einsatz von
Schmerzgriffen als Beugemitteln kein Raum. Diese Technik ist demnach nur dann als Maßnahme des
unmittelbaren Zwanges geeignet und kann nur dann zulässig sein, wenn sie gesondert angedroht wird.
Welche Rolle bei einem (nach den oben erläuterten Grundsätzen) zulässigen Einsatz von Schmerzgriffen
6

7



ein Überraschungsmoment spielen soll, ist nicht nachvollziehbar. Ein Verhalten, durch das Polizeikräfte
den Boden des Grundgesetzes verlassen, kann kein taugliches Schutzgut im Sinne des § 11 IFG Bln
sein.


Darüber hinaus sind die Zusammenhänge zwischen der Veröffentlichung und den vorgetragenen Be-
fürchtungen nicht nachvollziehbar. Aufgrund zahlreicher Veröffentlichungen zu Schmerzgriffen und der
Nervendrucktechnik sind die Techniken und die mögliche Art und Weise der Anwendung durch Polizei-
kräfte im Grundsatz und zumindest teilweise auch detailliert der Öffentlichkeit bekannt.


So beschreibt Frau Dr. Dorothee Mooser in ihrer Dissertation auf Basis von persönlichen und schriftli-
chen Interviews mit den Polizeibehörden aus mehreren Bundesländern (i.E. Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Bayern, Bran-
denburg und Bremen) sowie eines Besuches in der Hochschule der Polizei Baden-Württembergs in
Biberach detailliert Anwendungsbeispiele, Einsatzmöglichkeiten und Anwendungsschwierigkeiten (Seite
46 – 55). Unter anderen schildern ihre Interviewpartner*innen die Anwendung des Griffs in die Nerven-
druckkehlkopfgrube, eine weitere Nervendrucktechnik an der Nasenwurzel (Seite 47) oder den beson-
ders intensive Schmerzen auslösenden „Dreifachen Erwärmer 17“ aus der Kampfkunst des Kyusho-
Jitsu (Seite 48). Im Übrigen sei auf das Fazit dieser Interviews hingewiesen, nach dem die Verhältnis-
mäßigkeit von Schmerzen als Einsatzmittel nicht bedacht wird und in den verschiedenen Bundesländern
„stark gegensätzliche Auffassung“ zu Nutzen, Schaden und Verhältnismäßigkeit der Nervendrucktech-
nik existiert (S. 55).


Des Weiteren sind gerade in den letzten Jahren zahlreiche Fotos und Videos von Polizeieinsätzen in den
sozialen wie auch anderen Medien veröffentlicht worden, in denen die Anwendung der Schmerzgriffe
genau zu sehen ist und anschließend von einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurde (vgl. Thread von
Raphael       Knipping   vom     18.     August     2022,     https://twitter.com/RaphaelKnipping/sta-
tus/1560341401803657219; Anti-Kohle-Kidz Hamburg vom 20. September 2022, https://twit-
ter.com/AKK_Hamburg/status/1175092514350665728).


Ein genaues Studium der praktizierten Anwendung der Schmerzgriffe durch die verschiedenen Polizei-
behörden sowie eine gezielte Vorbereitung darauf ist daher jetzt schon möglich.


Des Weiteren ist die Befürchtung des Verlustes des Überraschungsmoments nicht nachvollziehbar. Bei
einem nach polizeirechtlichen Grundsätzen rechtmäßigen Einsatz von Schmerzgriffen muss dieser – wie
oben dargelegt – gesondert angedroht werden. Ziel ist es die störende Person dazu zu bewegen der
7

8



polizeilichen Anordnung Folge zu leisten. Hierfür ist immer eine Kommunikation mit der betroffenen Per-
son von Nöten, die dem Einsatz der Schmerzgriffe vorausgehen muss. Bei einem rechtmäßigen Vorge-
hen ist damit die Erzeugung eines Überraschungsmoments ausgeschlossen. Soweit der Vortrag so zu
verstehen ist, dass der Überraschungsmoment darin besteht, dass die betroffene Person nicht weiß,
welcher konkrete Schmerzgriff an welcher Stelle des Körpers im Einzelfall angewandt wird, ergibt sich
diese Information auch nicht aus den streitgegenständlichen Unterlagen.


Auch wie es durch die Veröffentlichung zu Gefährdungen von Polizeikräften oder Selbstgefährdungen
kommen oder diese gar den Einsatz von Schlagstöcken und Reizstoffsprühgerät nach sich ziehen soll,
erläutert die Polizei Berlin nicht weiter.


Der Klage ist daher stattzugeben.



Dr. Kube
Rechtsanwältin
8

Für eine informierte Zivilgesellschaft spenden

Unsere Recherchen, Klagen und Kampagnen sind essentiell, um unsere Politik und Verwaltung transparenter zu machen! So können wir unsere Demokratie stärken. Daraus schlagen wir kein Profit. Im Gegenteil: Als gemeinnütziges Projekt sind wir auf Spenden angewiesen.

Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit!

Jetzt spenden!

EU-Agrarsubventionen Die Großen profitieren, die Kleinen sterben

Am meisten Geld gibt die EU für landwirtschaftliche Subventionen aus. Aber bei welchen Betrieben landet das Geld? Wir haben detaillierte Daten der letzten Jahre gesammelt und mit unseren nationalen wie internationalen Medienpartnern ausgewertet.